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Abteilung X.
 
Über die Wunder.
Abschnitt II.

 

     In der obigen Betrachtung habe ich angenommen, dass das Zeugnis, worauf das Wunder gestützt wird, volle Beweiskraft erreiche, und dass seine Unwahrheit in der Tat unerhört sei; indes kann ich leicht zeigen, dass ich in meinen Zugeständnissen zu bereitwillig gewesen bin, und dass kein Wunder je auf einen vollen Beweis gestützt worden ist.

     Denn erstens befindet sich in keinem Geschichtswerk ein Wunder auf eine genügende Zahl von Personen gestützt, deren gesunder Sinn, Erziehung und Kenntnisse so unanfechtbar wären, dass man gegen alle Täuschung derselben sich geschützt halten könnte; deren Rechtschaffenheit so unbedenklich wäre, um sie über allen Verdacht des Betruges zu erheben; deren Glaubwürdigkeit und Ansehen in den Augen der Menschen gefährdet worden wäre, wenn man sie bei einer Lüge ertappt hätte, und die sich in einem so besuchten Orte der Erde befunden, dass die Entdeckung unvermeidlich gewesen wäre. Und doch sind alle diese Umstände nötig, um dem Zeugnisse eines Menschen volle Zuverlässigkeit zu geben.

     Zweitens zeigt sich in der menschlichen Natur ein Prinzip, was bei genauer Untersuchung die Zuversicht außerordentlich mindern muss, welche man bei Wundern auf das Zeugnis der Menschen setzen könnte. Die Regel, nach der wir uns selbst beim Überlegen entscheiden, lautet, dass Dinge, die man nicht kennt, denen gleichen, die man kennt; dass das, was als das Häufigste erscheint, auch das Wahrscheinlichste ist, und dass bei widerstreitenden Gründen man den Vorzug dem geben muss, der sich auf die größte Zahl gleicher Fälle stützt. Allein wenn man auch nach dieser Regel keine Tatsache annimmt, welche im gewöhnlichen Grade ungewöhnlich und unglaublich ist, so hält man doch bei dem weiteren Fortgange diese Regel nicht fest; sondern wenn etwas ganz Verkehrtes und Wunderbares behauptet wird, so wird eine solche Tatsache um so leichter zugelassen, und zwar gerade wegen des Umstandes, der den Glauben an sie hindern sollte. Die Leidenschaft für Überraschung und Staunen, welche das Wunder befriedigt ist eine angenehme Aufregung und treibt sichtlich zu dem Glauben der Dinge, an welche sie sich heftet. Dies geht so weit, dass selbst die, welche dieses Vergnügen nicht unmittelbar genießen und die erzählten wunderbaren Ereignisse nicht glauben können, doch gern an dem Genuss aus zweiter Hand oder durch Rückschlag Teil nehmen und einen Stolz und ein Vergnügen darin setzen, bei Anderen Staunen zu erwecken. Mit welcher Begierde hört man nicht auf die wunderbaren Geschichten der Reisenden, auf ihre Beschreibung der See- und Land-Ungeheuer, auf ihre Berichte von außerordentlichen Begegnissen, seltsamen Menschen und wilden Sitten? Verbindet sich nun noch die religiöse Gesinnung mit dieser Liebe zu Wundern, so hat es mit dem gesunden Verstande ein Ende, und menschliches Zeugnis verliert unter diesen Umständen allen Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Ein Gläubiger kann sich begeistern und sich einbilden, das Unwirkliche zu sehen; er kann wissen, dass seine Erzählung falsch ist, und doch, um eine so heilige Angelegenheit zu fordern, mit der besten Absicht dabei verharren. Selbst da, wo solche Täuschung nicht Statt hat, wirkt die durch eine so starke Versuchung geweckte Eitelkeit mächtiger auf ihn als auf alle Anderen in gewöhnlichen Verhältnissen; und ebenso wirkt sein eigenes Interesse mit gleicher Kraft. Seine Zuhörer haben vielleicht oder haben wirklich nicht die genügende Urteilskraft, um sein Zeugnis zu prüfen; sie geben in so erhabenen und geheimnisvollen Dingen grundsätzlich ihr eigenes Urteil gefangen, und selbst wenn sie es gebrauchen wollten, stören Leidenschaft und erhitzte Phantasie dessen regelmäßige Wirksamkeit. Ihre Leichtgläubigkeit erhöht seine Unverschämtheit, und seine Unverschämtheit überwältigt ihre Leichtgläubigkeit. Die Beredsamkeit auf ihrer Höhe lässt wenig Raum für Verstand und Nachdenken; wendet sie sich aber ganz an die Phantasie und deren Affekte so nimmt sie die gutwilligen Zuhörer gefangen und überwältigt ihren Verstand. Glücklicherweise wird diese Höhe selten erreicht. Was aber ein Tullius und Demosthenes bei einer Römischen oder Athenischen Versammlung kaum erreichen konnten, das vermag jeder Kapuziner, jeder herumziehende oder sesshafte Prediger über die meisten Menschen, und in höherem Masse durch Erweckung dieser groben und niedrigen Leidenschaften.

     Die vielen Beispiele von geschmiedeten Wundern, Prophezeiungen und übernatürlichen Ereignissen, die zu allen Zeiten entweder durch Gegenbeweise entdeckt worden sind, oder die sich durch ihre eigene Widersinnigkeit verraten, sind ein genügendes Zeichen für die große Neigung der Menschen zum Außerordentlichen und Wunderbaren; sie genügen, um Verdacht gegen alle Berichte dieser Art zu erwecken. Diese hier geschilderte Weise des Fürwahrhaltens zeigt sich selbst bei den gemeinsten und wahrscheinlichsten Ereignissen. So entsteht z.B. kein Gerücht so leicht und verbreitet sich namentlich auf dem Lande und in kleinen Städten so schnell, als das über Heiraten; zwei junge Leute gleichen Standes können sich kaum zweimal sehen, ohne dass die ganze Nachbarschaft gleich ein Paar aus ihnen macht. Das Vergnügen, eine interessante Neuigkeit zu erzählen, zu verbreiten und der Erste dabei zu sein, bringt solche Nachricht schnell herum. Dies ist so allgemein, dass kein verständiger Mann auf solche Gerüchte etwas gibt, ehe nicht stärkere Beweise sie unterstützen. Sind es nicht dieselben Leidenschaften und andere noch stärkere, welche die Masse der Menschen alle religiösen Wunder mit der größten Heftigkeit und Zuversicht glauben und erzählen lässt?

 


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