Werneuchen.
Sommer 1809


Dorf Blumberg liegt längst hinter uns und nun auch Seefeld und Löhme, zwei Zwillingsdörfer, die von hüben und drüben ihre völlig gleichen Kirchturmspitzen im Wasser des Löhmesees spiegeln. Aber der Werneuchener Kirchturm neckt uns noch immer und ermüdet vom langen Marsche halten wir inne, stützen uns nach hinten übergebogen auf unsern Stock und lüften mit der Linken den Hut, um uns die Stirne vom Winde kühlen zu lassen. Da plötzlich ist es, als hörten wir etwas wie Peitschenknall und Pferdeschnaufen, und zurückhaltend bemerken wir einen offenen Wagen, der, den Sand des Weges aufwirbelnd, in raschem Trab uns folgt. Und im nächsten Augenblick schon ist er so nahe, daß wir seine Insassen bequemlichst zählen können. Es sind ihrer fünf. Vorne der Kutscher mit zwei blondköpfigen Jungen und dahinter auf dem eigentlichen Sitze des Wagens – der in vier Lederriemen hängt und bei jeder Bewegung hin- und herschaukelt – ein wohlgenährtes Ehepaar, allem Anscheine nach zwischen dreißig und vierzig. Die Frau hält einen aufgespannten Regenschirm, den sie mit vielem Geschick à deux mains zu gebrauchen weiß, indem sie das rote Dach als Schutz gegen die Sonne, den Griff aber als Krückstock benutzt, um die beiden Jungen in Ordnung zu halten, die des engzugemessenen Raumes halber in beständiger Fehde sind und aller Kontrolle zum Trotz ihren still erbitterten Kampf mit den Ellenbogen fortsetzen. Zwischen der Sitzbank und dem schrägen Hinterteile des Wagenkorbes ist noch ein leerer Raum und unsere Kenntnis ähnlicher Fuhrwerke läßt uns erraten, daß hier ein Häcksel- oder Futtersack verborgen sein müsse, der schließlich nichts dagegen haben würde, wenn wir uns entschlössen, die letzte Viertelmeile des Weges auf seinem Polster zurückzulegen. Und wirklich wir schwingen uns hinein, und unsere Tarnkappe hervorziehend, unser selbstverständliches und allerwichtigstes Reisenecessaire, sitzen wir jetzt unbemerkt auf dem Häckselsack und werden zu glücklichen Zeugen all der kleinen Erziehungs- und Unterhaltungsszenen, die sich mehr und mehr zu einer gemütlichen Familienkomödie gestalten.

Unmittelbar vor uns, auf einer für unsere Füße frei gebliebenen Stelle, liegt ein Spielzeug, jenes mit Glöckchen und Schellen behängte Blechinstrument, das unter dem Namen der »Janitschar« das Entzücken aller Kinderherzen bildet. Der Raum ist so eng, daß wir's trotz äußerster Vorsicht nicht vermeiden können, die Glöckchen gelegentlich zu berühren und jedesmal, wenn es klingelt und tingelt, drehen sich alle fünf Köpfe nach uns um, in leiser Ahnung, daß es auf dem Häckselsacke nicht ganz richtig sei. Diese Kopfwendungen, die der starken Frau jedesmal äußerst schwer werden, gehen uns eine gute Gelegenheit, unsere bis dahin nur von Rücken und Seite her gesehene Reisegesellschaft auch en face kennenzulernen und uns über den Ausdruck des Behagens als eines charakteristischen Familienzuges zu vergewissern. Die beiden Jungen sind unzweifelhaft Zwillinge; der Mutter, einer hübschen blonden Frau, rollen die Schweißtropfen wie Freudentränen von der Stirn und ihr Ehegemahl zur Rechten zeigt uns jenes wohlbekannte, aus Würdigkeit und Sonnenbrand zusammengesetzte Gesicht, das alle ländliche Beamte zu haben pflegen, denen der Dienst in der Amts- und Gerichtsstube die Zeit zu Schnepfen- und Entenjagd nicht allzusehr verkürzt. Und so fehlt denn nichts mehr als die namentliche Vorstellung: Amtsaktuarius Bernhard aus Löhme, nebst Frau und Familie, die sich gleich nach Tisch auf den Weg gemacht haben, um dem befreundeten Pfarrhause zu Werneuchen, wo heute Geburtstag ist, einen Besuch abzustatten.

Die beiden Braunen traben tüchtig weiter, der kleine Streit zwischen dem Ehepaar, ob »Päth Ulrich« heute neun oder erst acht Jahre geworden sei, ist endlich selbstverständlich zugunsten der Frauenansicht entschieden, und der seit einer Viertelstunde seine Peitsche »Gewehr bei Fuß« habende Kutscher nimmt sie jetzt wieder in die Hand, um angetan mit allen Abzeichen seiner Würde in Werneuchen einzufahren. Schon holpert und stolpert der Wagen auf dem tiefausgefahrenen Steinpflaster, der Kutscher knallt oder streicht mit bemerkenswerter Eleganz die Stechfliegen von dem Hals der Pferde, das rote Dach des Regenschirms wird eingezogen und nur einmal noch fährt die Schirmkrücke mit einem energischen »sitz gerade«, in den Rücken des linken Jungen. In demselben Augenblick aber, wo der Getroffene zusammenfährt, hält auch der Wagen schon vor der Werneuchener Pfarre.

Von unserm Versteck her haben wir Zeit, das Haus zu mustern. Es ist ein Fachwerkbau mit gelbem Anstrich und kleinen Fenstern, sein einziger Schmuck der geräumige Vordergiebel und ein paar alte Kastanienbäume, deren hohe Kronen das ganze Haus in Schutz zu nehmen scheinen. Die Haustüre steht offen und gönnt einen Blick auf den kühlen fliesengedeckten Flur; aber niemand erscheint auf ihm, um die Gäste willkommen zu heißen. Die beiden Jungen haben endlich das Terrain rekognosziert und kommen mit einer barfüßigen alten Frau zurück, die sie hinten im Garten mit Unkrautjäten beschäftigt fanden. In ziemlich dienstlichem Tone poltert der Amtsaktuarius ein paar seiner Fragen heraus; aber bald ergibt sich's, daß die Jätefrau taub ist und es am geratensten sein dürfte, die Gesamtkosten der Unterhaltung ihr zuzuschieben. »Alles ausgeflogen... Alles in'n Wald... Ulekens Geburtstag.« Diese Worte genügen völlig. Unser Amtsaktuarius ist lange genug in dem Werneuchener Pfarrhaus aus- und eingegangen, um zu wissen, wo der Pfarrer seine Lieblingsplätze hat, und der Alten zum Zeichen völligen Eingeweihtseins einen kurzen Gruß zunickend, läßt er im nächsten Augenblicke weiter traben. Als der Wagen etwas heftig anrückt, fall' ich nach hinten über und stoße so stark an die Janitschar, daß sämtliche Glocken zu klingen anfangen. Aber alles ist bereits in solcher Aufregung, daß niemand mehr darauf achtet, welcher Mittagsspuk da hinten sein Wesen treibt.

Bis zum Gamengrund ist eine halbe Stunde. Wir sind eben in den Fahrweg eingebogen, der nach Freienwalde hin abzweigt, und halten alsbald an einem Waldpfade, den wir in seinen Windungen durch das Gehölz hin deutlich verfolgen können. Quellen sickern im Moos. Elsen und anderes Laubholz mischt sich unter die Tannen und erfrischende Kühle weht uns an.

»Oh, da singen sie schon. Wußt' ich doch, daß wir sie finden würden« – mit diesen Worten, die fast wie Selbstgratulation klingen, eilt der Amtsaktuar von rechts her auf die linke Seite hinüber, um bei der bevorstehenden Landung seiner Ehehälfte nach Kräften behilflich zu sein. Im Vertrauen auf die Gutgeartetheit der Pferde wird statt des direkten Weges über das linke Vorderrad der Umweg über den Deichseltritt gewählt; wir aber, als wir diese Vorkehrungen glücklich getroffen sehn, schwingen uns, die linke Hand auf dem Wagenkorbe, mit raschem Ruck in den Fahrweg hinein und eilen der Aktuarfamilie voraus in die Waldestiefe hinein.

Da haben wir sie. Mitten auf einem Rain, den hochstämmige Tannen einschließen, scheinen die Elfen an hellem Nachmittag ihre Spiele zu treiben. Ein Dutzend Kinder, groß und klein, und mit allerhand Kränzen im Haar tanzen den Ringelreihen, während inmitten ihres Kreises ein Blondkopf steht und mit seiner Weidenrute hierhin und dorthin zeigt, als wär es ein Zauberstab. Abwärts davon, in einer Vertiefung unter den Bäumen, qualmt und knistert ein Feuer, an dessen Rande, neben anderem Topfwerk, eine jener weitbauchigen braunen Kannen steht, die den Namen ihrer schlesischen Vaterstadt ruhmreich über die Welt getragen haben; dahinter aber, auf einer natürlichen Bank, sitzt pastor loci, kenntlich durch Haltung und Sammetkäpsel, und reicht seiner neben ihm stehenden jungen Frau die Hand. »Es ist gut so«, scheint seine freundliche Miene zu sagen, und die Glückliche, glücklich in seinem Besitze, neigt sich und küßt ihm die Stirn, auf einen kurzen Augenblick unbekümmert um Kannen und Kinder und um das brodelnde Wasser, das eben zischend in die Flamme fährt. Wir stehen noch im Bann dieser reizenden Szene, da knickt es dicht neben uns im Unterholz, und das rasche, laut-ängstliche Atmen einer Asthmatischen läßt keinen Zweifel darüber, wer im Anzuge sei. Wirklich, ihre Zwillinge vorauf, den Ehegemahl mit der Janitschar unmittelbar hinter sich, ist die Frau Amtsaktuar auf die Waldwiese getreten. Und vor ihrer Erscheinung ist der Zauber entflohen. Der Ringelreihen schweigt, die Werneuchner Dorfjugend hat ihr Elfentum abgestreift und das gesamte junge Volk stürzt mit Jubelgeschrei den Ankommenden entgegen.

Wir sind nicht Zeugen der Begrüßungsszene, die nun folgt, sehen nicht, wie der reizende Blondkopf, der noch eben auf einem Elsenstumpfe stand, das bewunderte Geschenk aus den Händen seines Paten entgegennimmt, und beteiligen uns noch weniger an »Hirsch und Jäger« oder gar an dem Wettkampfe der abschließend zwischen den Horatiern oder Curiatiern von Werneuchen und Löhme zur Aufführung kommt – wir gönnen den Alten am Feuer ihr Geplauder und den Kindern im Wald ihre Lust und gesellen uns ihnen erst wieder, als sie gegen Abend, unermüdet vom Singen und Springen, ihren Heimmarsch antreten. Halben Weges zwischen dem Gamengrund und Werneuchen begegnen wir ihnen und lassen den phantastischen Zug an uns vorüberziehen. Voran Klein-Ulrich, der Held des Tages. Unmittelbar hinter ihm die Zwillinge, von denen einer auf einem Kaffeetrichter bläst. Und nun der Fahnenträger, einen Birkenbusch vor sich. Andre folgen mit zinnernen Bechern und blechernen Löffeln – alles in allem ein Bacchuszug aus jenen Regionen, wo das Besingkraut an die Stelle des Weinlaubs tritt.

Neben dem Zuge her mahlt der Löhmer Amtswagen. Unsere stattliche Freundin, die seit dem Abendgange durchs Korn, auf dem sie sich verlobte, nie mehr einen Spaziergang wagte, thront mit dem Ausdruck wachsenden Behagens auf ihrem Wagensitz, und gelegentliche Zurufe, die sich auch jetzt noch auf nicht abzureichende Distanz der Erziehung ihrer Zwillinge widmen, geben ihr mehr Befriedigung als Verdruß. Eine kurze Strecke hinter dem Zuge folgen die Männer in lebhaftem Gespräch und der Amtsaktuar, der die Berliner Zeitung hält, rektifiziert die rechte Flügelaufstellung bei Wagram, »ein Fehler, den er dem Erzherzog Karl nie zugetraut hätte.« Neben ihnen her, aber gleich unangefochten durch die Fehler bei Wagram, wie durch die Korrekturen des Amtsaktuars, trottet Boncoeur, aller Liebling und Vertraute, mit einem so ehrlichen Pudelgesicht, als hab er's jedem einzelnen versprochen, für verlorene Tücher und Schuhbänder mit seiner Person aufkommen zu wollen.

Dämmerung liegt auf der Dorfstraße. Die Spielgefährten schlüpfen rechts und links in Hof und Türe, während unsere Freunde vor der Pfarre halten.

Die Sterne ziehen herauf und es wird still in Dorf und Haus.




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 © textlog.de 2004 • 15.10.2024 11:44:45 •
Seite zuletzt aktualisiert: 08.11.2007 
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