Ein Original-Telegramm


Das 'Neue Wiener Journal' hat es kürzlich mit einem wirklichen Originaltelegramm versucht und dabei Schiffbruch gelitten. Sein Berliner Korrespondent depeschierte (siehe die Nummer vom 1. März) ausführlich unter dem Titel »Josef Lewinsky bei Ludwig Barnay«. Josef Lewinsky schildere »in einem Feuilleton« — welches Blattes, wird natürlich nicht gesagt — seinen Besuch bei Barnay. Wie das? Der alte Lewinsky, in der deutschen Bühnen weit eine berühmtere und rühmlichere Erscheinung als die Berliner Mätzchengröße, hat sich auf die Nachricht hin, dass sein Kollege Direktor des Hofschauspielhauses geworden sei, eigens nach Berlin begeben, um für ein dortiges Blatt ein Interview zu liefern? Es muß wohl so sein. Sonst würde ein Sparmeister wie Herr Lippowitz nicht eine Unsumme an ein Originaltelegramm wenden. Und die Tatsache ist sensationell genug, um rascher als durch die Schere, die erst am andern Tag arbeiten könnte, den Lesern vermittelt zu werden. Lewinsky, heißt es also, habe »auf sein Ansuchen, ihm eine Begegnung zu gewähren, von Barnay die Mitteilung bekommen, die einzige Zeit, ihn außeramtlich zu sprechen, wäre bei Tische; wenn Lewinsky sein Gast sein wolle, so sei er willkommen«. Folgt die Schilderung, die Lewinsky von »seinem Empfang« gibt. Barnay sagte zu ihm: »Seien Sie mir nicht böse, dass ich Sie warten ließ; ich bin jetzt so sehr in Anspruch genommen«. Barnay ist sehr gnädig und erzählt dem aufhorchenden Lewinsky, wie seine Berufung zustande kam. Das alles interessiert den alten Burgschauspieler mächtig. Und er zuckt nicht mit der Wimper, als ihm Herr Barnay mitteilt, der Kaiser habe sich zu Herr v. Hülsen geäußert, er habe ihn, Barnay, als Richard den Dritten gesehen und als den »vollendetsten Bösewicht« empfunden. Hier erlaubt sich Lewinsky kein fachmännisches Urteil. Dagegen spricht er sehr eingehend von den Gemälden im Hause Barnay. Ein kurioser Mensch, dieser alte Lewinsky, der hinter allen neuen Ereignissen her ist und sich sogar nach Berlin aufmacht, um bei einem Kollegen Audienz zu nehmen. Ist das nicht wirklich sensationell? Lohnt's nicht eine Originaldepesche des 'Neuen Wiener Journals'? Nun wird vielleicht manch ein Leser glauben, das Lippowitzblatt habe sich einen Ulk erlaubt. Es war noch in der Gebelaune seiner Faschingsnummer, von der es selbst erzählt, sie habe »in ganz Europa Aufsehen gemacht«. Von Drontheim bis Lissabon hat man von nichts anderem gesprochen. Mindestens aber hat Wien anerkannt, dass diese Spottgeburt von Dreck und Wasser nicht durch die Schere vom Nabel einer fremden Mutter gelöst, sondern wirklich dem Schoße der Redaktion entsprossen war. Gewiß, die Bespeiung des Privatlebens der Frau Eysoldt war im Geiste jenes Altmeisters Buchbinder gehalten, den das 'Neue Wiener Journal' heute mit Unrecht verleugnet. Herr Lewinsky darf, wenn's einen journalistischen Ulk gilt, auf größere Schonung nicht rechnen, als sie einer Dame zuteii wird. Ihn bei Herrn Barnay antichambrieren zu lassen, mag darum ein loser Einfall der lippowitzigen Faschingslaune sein. So denkt der Leser. Aber er irrt. Josef Lewinsky hat tatsächlich den Herrn Barnay interviewt. Freilich nicht der Wiener Hofschauspieler Josef Lewinsky, sondern ein uninteressanter Kunstreporter, der fatalerweise den gleichen Namen führt und geschäftstüchtig genug ist, sich kein Pseudonym zu wählen. Dieser Herr Josef Lewinsky grassiert in den reichsdeutschen Theaterrubriken etwa so wie die Frau Ilka Horowitz-Barnay, die rastlos Besuchende, in den österreichischen. Hätte Herr Lippowitz den wahren Sachverhalt geahnt, er hätte nicht fünf Heller für die Original-Nachricht ausgegeben und ruhig mit der Schere gewartet, bis das Blatt mit dem Interview in Wien eingetroffen war. Nun ist das Malheur geschehen, und es gibt bloß einen gerechten Ausgleich: Dass die Berliner Zeitung ein Original-Telegramm aus Wien bringt, das einen Gegenbesuch »Barnay bei Lewinsky« schildert. Es war aber nur die Ilka.

 

 

Nr. 198, VII. Jahr

12. März 1906


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