
Ludwig Speidel
Seine Bedeutung als schöpferischer Geist, als Künstler, als Bewahrer großer Heimatswerte in einer Zeit vielfach zerstörender Triebe, wird ihm in der ganzen deutschen Welt, nicht bloß in Wien bestätigt und gedankt werden, sind einmal die vielen einzelnen Blätter zu einem Ganzen vereinigt, deren Sammlung er bei Lebzeiten sich spröd entzogen hatte.
Ludwig Speidel war und bleibt einer der Schriftsteller von erstem Range; auf ihn mag insbesondere die Geschichte unserer Sprache als Beispiel hinweisen, wie sie in der abhandelnden Prosa Körperlichkeit, blühendes Licht und Farbe, Wohlklang und Zartheit, männliche Führung und anmutigste Bewegung, kurz allen Reiz der Poesie selbst entwickeln könne. In eine unwürdige Tagespresse verirrt, war Speidel vielleicht der Letzte, der sie zu ertragen, ja eben dadurch zu erheben wußte und ihr reichlich zurückgab, was er ihr verdankte; denn seine Stellung war von einer Macht begleitet, die, an seine Persönlichkeit gebunden, in Zukunft kaum wieder einem unabhängigen Geiste in solchem Umfang zugestanden werden wird.
Der Journalist übt ein Metier, der Schriftsteller hat einen Beruf. Im Wesen des Schriftstellers liegt es, aus seiner Natur und Bildung zu völlig in ihm beschlossenen, nicht wahllos von außen aufgenötigten Fragen ein besonderes Verhältnis zu gewinnen und darzustellen, wodurch er wieder andere in seine Lebensrichtung zu führen vermag. Dagegen bestimmt der Journalist gar nichts, sondernmacht als willenloser Zeiger des wechselnden Geschehens nur die Gebärden der Aktion, während die Naturkraft der Ereignisse sich auf seine Worte überträgt und sie wie Windmühlflügel in Bewegung setzt. Für die Zeitung als solche ist der Schriftsteller nichts als ein eitler Dekor ihres ökonomischen, mechanisch-präzisen Geschäftes; sie sucht ihn in seinen besten Kräften auszunützen, aber zugleich seiner Selbstbestimmung zu entziehen, indem sie ihm die Gegenstände seiner Arbeit aufnötigt und ihn zu einer Oberflächenbehandlung zwingt, die ihr gemäß ist, aber sein eigenstes Wesen geradezu auflöst. Aus dem Kampf, der Vereinigung, dem gegenseitigen Nachgeben, Bedingen und Beharren dieser zwei unversöhnlichen, intimsten Feinde: Zeitung und Schriftsteller ist denn auch — namentlich in Wien und durch Speidels besondere Begabung — eine Art von eigener Kunstgattung und -übung hervorgegangen: das Feuilleton. Der Geist, die Auffassung und Technik dieser kostbaren Geringfügigkeit — der Unsterblichkeit eines Tages, wie Speidel sie nannte — sind in Wien so allgemein geworden, dass man ruhig sagen kann, die Zeitung habe hier wie so viele andere Güter, auch die Poesie, das Feuilleton habe die Literatur verschlungen. Abgesehen von Speidels Arbeiten ist aber an all der gepriesenen nichtigen Gefallsamkeit nur mehr ein Schein von Kunst und tieferer Betrachtung; in Wahrheit ist der Schriftsteller aus diesem Gebiete fast ganz hinausgeschoben worden vom Journalisten. Das schlechte Geld verdrängt das bessere.
Dass aber diese Form — ausgereifte Improvisation, durchdachte Augenblicksreagenz — in ihrer paradoxen Verlockung für einen Schriftsteller, wie der Journalismus selbst, ebensoviel Anziehendes wie Abstoßendes haben mag, gerade genug sie zu suchen und wieder zu verachten, begreift sich gern. Die Natur Speidels zumal hatte etwas Impulsives, ihr schöpferischer Trieb entfaltete sich und welkte bald nach dem wirkenden Augenblick. Seine Fruchtbarkeit bestand nur vermöge der Fülle der Eindrücke, die ihm der Tag brachte, und des journalistischen Zwanges, sich mit ihnen vor dem Publikum auseinanderzusetzen. Freilich hatte dieser formschöpferische Geist, dieser gefühlige Dialektiker eine solche Ehrfurcht vor dem Unwiderruflichen, das im niedergeschriebenen Worte liegt, dass er jedesmal den ganzen Widerstand der Sprache gegen die Leichtigkeit und Eile ihres täglichen Gebrauches empfand; aber indem er ihn besiegte durch eine vertiefte, zögernde, doch in der entschlossenen Wahl sichere Weise des Ausdrucks, gewann er eben eine bildnerische Dauerhaftigkeit über Anlaß und Moment hinaus und setzte seinen Beruf gegen das Metier durch.
Diese harmonische Plastik der Prosa Ludwig Speidels, diese Monumentalität im Kleinen, der weite Horizont, der hinter allen den gefaßten und knappen Gebilden sich öffnet, werden erst ganz erkannt werden, wenn seine Schriften aus der trüben Umgebung einer fragwürdigen Institution endlich dauernd herausgestellt, sich selbst zurückgegeben sein werden. Freilich wird man dann auch die geistigen Gefühls- und Urteilswidersprüche und die Grenzen seiner Eindrucksfähigkeit und Bewegung deutlicher erkennen, aber auch zu würdigen wissen, was man ihm bisher bloß anzuschulden liebte: nur der unheilvolle Mißbrauch, den die Zeitung in jedem Meinungsstreite dadurch mit ihrem Urteil treiben darf, dass sie, Richter in eigener Sache, ohne Widerspruch, mit Außerachtlassung der Gegner spricht und immer nur sich selber hören will, ließ die mächtige Subjektivität eines selbständigen Geistes als gefährliche Willkür erscheinen. Der Schriftsteller, der die Zeitung für sich hat, findet eine überlaute Resonanz, und er entbehrt jeder Gegenrede, durch die sein Für und Wider erst zum Ganzen in Harmonie gesetzt würde. So konnteetwa in dem tobenden Streit um Wagner das Speidel'sche Wort von der »Affenschande« der Wagner'schen Popularität eine mißliche Unsterblichkeit erhalten, oder der innere Widerspruch gegen die neu aufsteigende Welt von Kunstwerken und Lebensmeinungen den Anschein eines willkürlichen Preßpapsttumes annehmen. Eben indem Speidel seine Selbstbestimmung und seinen Widerspruch als Grundrecht wahrte, nahm er an Macht und Ansehen Schaden, weil er an die Stelle gefesselt war, die über alles zu entscheiden die Anmaßung und in nichts Recht zu behalten das Schicksal hat.
Aber selbst dort, wo er der aufgewachsenen Übermacht des Neuen mit der ganzen Gegengewichtigkeit seiner Natur sich zu einem von vornherein aussichtslosen Kampf stellt, bewahrt er die volle Schönheit eines reinen, unverdorbenen Empfindens und ist gleichsam unverwundbar durch eine entzückende Dialektik des Gefühls.
Und es war ein ergreifendes Schauspiel — wie immer, wenn ein Mann in der vollen Kraft seiner Entschlüsse, durch die höhere Gewalt der Zeit und der Menschheit aus seinem Selbst und darüber hinaus zu einem Gesamtgefühl geführt wird —, als die Genialität der neuen Werke, ihre Natur selbst, was in Speidel Elementarempfinden war, zu sich zwang, bis er in der großen bleibenden Einheit der Kunst wie in einer vorzeitigen Ewig, keit beruhigt und befreit, ohne Zagen und innerlich versöhnt einging, lange ehe er starb.
Speidel war ein Schwabe und wahrte die ganze prächtige Gesundheit dieses Volksschlages, dessen Gabe und Grenze in seinem Werke so gut und lauter beschlossen ist, wie in den besten seiner Landesgenossen. Was den Dichter ausmacht: die ganze Hingabe an die Erscheinung, an die dingliche Kraft und Würze des Wortes, bestimmt auch ihn in seiner Wohlbeschaffenheit. In der geistig wertenden, dialektisch sich auseinandersetzenden Äußerung, in seinem kritischen Bedürfnis, wird er ebenso durch die schwäbische Schule bestimmt, durch die »Schule« freilich in engerem Sinne, worunter eine germanistisch-philologische Grundlage der Bildung zu verstehen sein möchte, die das dichterische Sprachgefühl durch ein horchendes Sprachdenken und ein spürendes Sprachwissen vertiefte.
Für Schwaben ist eine besondere Methode geistiger Zucht typisch, die etwa ganz bewußt und deutlich ausgebildet erscheint im Erziehungsgange der alten »Stiftler«. Diese sollen eigentlich Theologen werden, einerlei aus welchem Wollen, Fühlen, aus welcher kindlichen und elterlichen Lebensstimmung sie herkommen. Sie lernen zu der angestammten Derbheit und Frische den Schliff der klassischen Tradition, das gesunde Holz wird sozusagen gehobelt und geglättet, wodurch erst seine schöne Maserung, sein Kern hervortritt. Ihre zugreifende Impulsivität, mit allen Salben geistlicher und geistiger Dialektik gesalbt, darf sich nun statt zur Verteidigung der heiligen Güter gerade zum unheiligsten Angriff geschmeidig fühlen. So werden sie mündig, schalten mit ihren Notwendigkeiten als mit lauter Freiheiten, ihre Sprache, durch welche die Landschaft der heimatlichen Mundart, die Gefühls- und Denkweise einer wohlerhaltenen Rasse schimmert, gewinnt zur angeborenen Kraft eine gewisse vornehme Haltung, sie blitzt von morgendlicher Schärfe und schwingt gespannt und elastisch in lebendiger Latinität; die Rede der Alten wird in diesem Deutsch wiedergeboren.
Diese Saiten sind auch bei Speidel rein gestimmt und klingen mit allem Wohllaut einfacher Harmonisierung und volkstümlicher Melodik, mit einer anmutigen Macht und Fülle, die man nicht vermissen möchte, wenn wir auch oft tieferen verschlungeneren, schwierigeren Stimmen lauschen wollen, und' wenn auch herbere, strengere, geistig mannigfachere, weniger bedingte und dringender bedingende, weniger abgeschlossene, aber feuriger aufleuchtende, weniger in sich ruhende, als ruhelos suchende und findende Naturen jeder Zeit, also auch der unsrigen, ihren eigensten Ausdruck geben. So war Speidel — wie fast alle seine prächtigen Landsleute in der Geschichte unserer Literatur — ein vornehm konservativer, naiv anschaulicher Geist, ein kontemplativer Idylliker, der sich in den unendlichen, erhabenen Bedingtheiten der vollendeten, nicht in den Revolutionen und Elementartrieben der werdenden Welt und Kunst wohl fühlte und das reinste seelische Behagen, den Genuß einer unerschütterten Gesundheit und Zuversicht des gegebenen Daseins mitteilte.
Im unverwirrten, unmittelbar einleuchtenden Walten der Natur und in dem klar ausgewirkten Bilde der klassischen Lebenssicherheit fand er immer neuen Anreiz bewundernder, verklärender, beseligter Gestaltung. Hier spiegelte ungetrübte Tiefe seiner eigenen durchschauenden Betrachtung entgegen, antwortete ihm eine lautere, purpurne Unendlichkeit. Das Mannigfaltigste drängte er zu einer unvergeßlichen Einfachheit zusammen und gab der Macht der Erscheinungen eine knappe, körperhafte, blut- und muskelstarke Wiedergeburt im Wort. So konnte er schauspielerische Erscheinungen in ihrer sinnlichen Spontaneität spüren wie den Liebreiz einer süßen physischen Berührung und festhalten. So hat er — wie kein Kritiker sonst — das alte Burgtheater, selbst ein Stück abgeschlossenen Lebens, gesehen und ganz nachgeschaffen. Mitterwurzer las einmal Märchen vor und Speidel fing den Klang, den verwehenden, versunkenen Tonfall der Stimme auf, wir hören ihn: »Im Märchen vom unsichtbaren Königreiche wird ein Flußtal geschildert, in das der Mond scheint. Wellen und Wald rauschen und erzählen seltsame Sachen. Durch gedehnte Worte eröffnet uns der Vorleser die Aussicht in das lange Tal, er läßt im Worte die Musik, der Landschaft widerklingen, man sieht hörend die Natur. Die Beschreibung schließt mit dem Satze: 'es war ein wunderbares Tal'. Da nimmt sich Mitterwurzer das Wort 'wunderbar' heraus. Er läßt das schöne Wort musikalisch wirken, er läßt es klingen, ohne dass er singt. Aus dem dunkleren 'u' bricht das helle 'a' wie ein Tag aus der Dämmerung. Wir haben nie eine herrlichere Wortmusik gehört«.
Als Kritiker trat er einem Theaterstücke wie einem leibhaftigen Wesen mit kindlich aufgetanen Augen entgegen und mochte es nur verstehen und verständlich machen, indem er es von Grund aus beschrieb. So erzählte er den Inhalt, wobei er unversehens aus der Empfindung die Meinung, aus dem Gefühl das Urteil, aus der Anschauung die Ansicht enthülste. Und dies Erzählen, diese dem Dichter, wie dem Kinde angeborene ursprüngliche Freude am Berichten, am Aufbauen ist das Bleibende seiner produktiven Kritik und unser Entzücken, mögen wir seiner Meinung noch so sehr widerstreben. Von den vielen Stücken, die er im Laufe der Jahre sah und erzählte, bestehen heute freilich nur mehr wenige, aber gerade die vergessenen und verwelkten bekommen durch seine Erzählung einen Hauch von Existenz. Und dies ist der wahre, eigentliche Wert der rezeptiven Produktion — nicht die immer nur relative und augenblickliche Giltigkeit ihres kritischen Urteils —, dass sie die ganze Literatur zur lebendigen und wirkenden Geschichte der wachsenden Dichtung verklärt und in dieser ein unsterbliches atmendes Ganzes erblickt und gestaltet, woran nichts tot, stumm, sinn- oder wesenlos bleibt.
Die volle Höhe, das absolute Gleichmaß von Inhalt und Form, von subjektivem Anreiz und gegenständlicher Würde haben seine Aufsätze, wo sie ein abgeschlossenes Bild, eine in sich zurückgekehrte Bewegung, einen Menschen, eine Landschaft, ein Erlebnis durchdringen und allseitig umfassen. Er beschreibt einmal Uhlands ehrwürdige Gestalt: »Klein, aber kräftig gebaut, mit einem Rückgrat, das eher brach, als sich bog, sein von rötlich blonden Haaren umkränzter Kopf hatte einen starken und strengen Knochenbau, aus welchem die zwei hellblauen Augen wie zwei Kinder herausgrüßten«. Oder er huldigt den ewigen Lehrern unserer Sprache, den treuen Gebrüdern Grimm: »Selbst wenn sie sich zur höchsten Vaterlandsliebe aufgeschwungen, kehren sie gern in ihre Furche zurück und vollenden da, der Lerche gleich, den Lobgesang eines Liedes, das sie in der Höhe geschmettert haben ... In Leben und Wissenschaft ist Jakob die trotzigere und bahnbrechende Natur, wo er den Pflug ansetzt, drückt Jakob ihn tiefer ein, so dass der Brodem der Erde hervorbricht und sich die Schollen schwef und langsam, als wollten sie sich eine Weile besinnen, zu beiden Seiten niederlegen. Ein Bahnbrecher schaltet Jakob mit Axt und Pflugschar, während Wilhelm mehr eine Gärtnernatur ist, die auf dem schon gerodeten Erdreiche ihre zierlichen Beete anlegt, sie sorgsam wartet und still begießt«.
Ein wanderhafter und trinkfester Mann — die mit ihm verkehrt, wissen von mancher Wirtsstube zu erzählen, wo er zechend und sprechend der Oberste war — ging er etwa Schuberts sagenhaftem Aufenthalt in der Hinterbrühler Höldrichsmühle, wie dem Klange der Müllerlieder selbst, an die Quelle nach. Oder er las in Mattighofen aus einer oberösterreichischen altertümlichen Bauerngegend den Geist des Volksgesanges und der mittelalterlichen Dichtung aus Tracht und überkommener Sitte, aus der Gestalt der Bauernhäuser, aus der Inschrift eines verwitterten Wegkreuzes, aus dem urtümlichen Ansehen des Wald- und Ackerlandes, wie aus einem aufgeschlagenen ewigen Bilderbuche ab.
Wie er in der schönsten Wiener Landschaft — seiner zweiten Heimat — das holdselige Walten der grünen, von Licht und Blüte, Duft und Gesang durchhauchten Stunden lauschend einatmet, hat er einmal unvergeßlich geschildert und in dieser kleinen lieblichsten Prosadichtung das eigene Bild — ein Idyll der höchsten geistigen Klarheit und sinnlichen Liebenswürdigkeit — dargestellt.
So saß er ein ebenbürtiger Genosse aller deutschen Meister schon bei Lebzeiten recht eigentlich beherzt und guten Mutes an den Tischen der Götter. Was er schrieb, schien einen Morgenglanz der Unsterblichkeit auszustrahlen und hatte den rosenschimmernden, unendlichen Grund hesperischer Tage, die Kraft, Leichtigkeit und Klarheit klassischer Sicherheit, die Wohlabgewogenheit in sich beruhenden, die Fülle genießenden, um seiner selbst willen lebenden und sinnenden Denkens, die Bestimmtheit einer Aussage, die in jedem Augenblicke sich selbst gemäß, ihre innere Wahrheit wie das eigene Schicksal herausstellt, den Laut einer Prosa, in welcher der volle, stete Rhythmus eines gesund schlagenden Herzens gleichsam an sich selbst Freude hatte. Im Inhalt dieser knappen, in jedem Satze ausgerundeten, sparsam-reichen Gestaltungen liegt ein dauernder Schatz ursprünglicher und unsterblicher Stammesart, in ihrer Form ist der Geist, das Herz, alles Wollen, Wissen and Können unserer Sprache lebendig.
Otto Stoessl
Nr. 197, VII. Jahr
28. Februar 1906.