43. Schlußzusammenfassung über die Natur des Nichtseienden und die Notwendigkeit seines Seins
Fremder: Weißt du auch wohl, dass wir dem Parmenides noch über sein Verbot hinaus sind unfolgsam gewesen?
Theaitetos: Wieso?
Fremder: Noch weiter, als er es uns zu untersuchen verboten hat, sind wir vorwärts gegangen in der Untersuchung und haben es dargestellt.
Theaitetos: Wie das?
Fremder: Er sagt doch: [258d]
»Nicht vermöchtest du ja zu verstehn, Nichtseiendes seie,
Sondern von solcherlei Weg halt fern die erforschende Seele?«
Theaitetos: So sagt er allerdings.
Fremder: Wir aber haben nicht nur gezeigt, dass das Nichtseiende ist, sondern auch, als was der Begriff des Nichtseienden sich seiend findet, haben wir aufgewiesen. Denn nachdem wir gezeigt, dass die Natur des Verschiedenen ist und dass sie verteilt ist unter alles Seiende gegeneinander, [e] so haben wir von dem jedem Seienden entgegengesetzten Teile derselben zu sagen gewagt, dass eben er in Wahrheit das Nichtseiende sei.
Theaitetos: Und auf jeden Fall, glaube ich, haben wir vollkommen richtig erklärt.
Fremder: Also sage uns niemand nach, wir hätten das Nichtseiende als das Gegenteil des Seienden dargestellt und dann zu behaupten gewagt, es sei. Denn von einem Gegenteil desselben haben wir ja lange jeder Untersuchung den Abschied gegeben, ob es ist oder nicht ist und erklärbar oder auch ganz und gar unerklärbar. [259a] Was wir aber jetzt beschrieben haben, dass das Nichtseiende sei, widerlege uns entweder einer auf überzeugende Art, dass es unrichtig gesagt ist, oder, solange er das nicht vermag, sage auch er wie wir, dass die Begriffe sich unter einander vermischen. Und da das Sein und das Verschiedene durch alles und auch durch einander hindurchgehen, so wird nun das Verschiedene als an dem Seienden Anteil habend freilich sein, vermöge dieses Anteils, nicht aber jenes, woran es Anteil hat, sondern ein Verschiedenes; verschieden aber von dem Seienden ist es ja offenbar ganz notwendig das Nichtseiende. [b] Wiederum das Seiende am Verschiedenen Anteil habend, ist ja verschieden von allen andern Gattungen, und als von ihnen insgesamt verschieden ist es ja eine jede von ihnen nicht, noch auch alle andern insgesamt, sondern nur es selbst. So dass das Seiende wiederum ganz unbestritten tausend und zehntausenderlei nicht ist und so auch alles andere einzeln und zusammengenommen auf gar vielerlei Weise ist und auf gar vielerlei Weise nicht ist.
Theaitetos: Richtig.
Fremder: Und wenn diesen Gegensätzen jemand nicht glauben will, der sehe zu und trage etwas Besseres vor als das jetzt Dargestellte; [c] wenn er aber, nur um wunder was Schwieriges ausgedacht zu haben, seine Freude daran hat, die Rede bald hierhin, bald dorthin zu ziehen, so hat er sich eine Mühe genommen, die nicht sehr der Mühe wert ist, wie unsere jetzige Rede besagt. Denn dies ist weder gar herrlich noch eben schwer zu finden; jenes aber ist ebenso schwer und zugleich auch schön.
Theaitetos: Welches?
Fremder: Das vorher Erklärte, nämlich dies beiseite lassend soviel wie möglich dem Gesagten im einzelnen prüfend nachzugehen, wenn jemand, was in gewissem Sinne ein Verschiedenes ist, auch wieder als ein Selbes setzt, [d] und was ein Selbes ist, als verschieden, in dem Sinn und in der Beziehung, in welcher er sagt, dass ihm eins von beiden zukomme. Aber von dem Selben, ganz unbestimmt wie, behaupten, es sei auch verschieden und das Verschiedene dasselbe und das Große klein und das Ähnliche unähnlich, und so sich freuen, wenn man nur immer Widersprechendes vorbringt in seinen Reden, das ist teils keine wahre Untersuchung, teils gewiß eine ganz junge von einem, der die Dinge eben erst angerührt hat.
Theaitetos: Ganz offenbar.