20. Prüfung des streitkünstlerischen Vermögens der Sophisten: Sie erzeugen den Schein, über alles zu wissen, ohne weise zu sein


Fremder: [232b] Nicht also soll uns dies bei unserer Untersuchung aus Trägheit begegnen; sondern laß uns zuerst etwas von dem über den Sophisten Gesagten wieder aufnehmen, denn eines hat mir eingeleuchtet als ganz vorzüglich ihn bezeichnend.

Theaitetos: Welches denn?

Fremder: Wir sagten doch, er sei ein Künstler im Streitgespräch.

Theaitetos: Ja.

Fremder: Nicht auch, dass er eben hierin ein Lehrer werde für andere?

Theaitetos: Unbedenklich.

Fremder: So laß uns denn sehen, worin denn solche Leute sich rühmen, andere streitbar zu machen im Gespräch! Unsere Untersuchung gehe aber von Anfang an so: [c] Zuerst über göttliche Dinge, wie sie den meisten verborgen sind, setzen sie sie doch in Stand sich zu streiten?

Theaitetos: Gesagt wird das ja von ihnen.

Fremder: Und was offenbar ist auf der Erde und am Himmel, auch darüber?

Theaitetos: Allerdings.

Fremder: Aber auch in geselligen Versammlungen, wenn vom Werden und Sein im allgemeinen gesprochen wird, wissen wir doch, dass sie selbst gewaltig sind im Widersprechen, und dass sie auch die andern tüchtig machen in dem, was sie selbst sind.

Theaitetos: Auf alle Weise.

Fremder: [d] Und über Gesetze und alle Staatsangelegenheiten versprechen sie nicht, sie streitbar zu machen?

Theaitetos: Niemand würde ja wohl, dass ich es gerade heraussage, mit ihnen reden, wenn sie dies nicht versprächen.

Fremder: Und wiederum in allen und jeden einzelnen Künsten, wie man jedem Meister darin widersprechen muß, das liegt öffentlich bekanntgemacht und niedergeschrieben da für jeden, der es lernen will.

Theaitetos: Du meinst wohl die Sachen des Protagoras über das Ringen und die andern Künste? [e]

Fremder: Und Ähnliches, o Trefflicher, von vielen andern. Aber scheint nun nicht diese Kunst des Widerspruchs im allgemeinen über alles hinreichendes Geschick zu besitzen zum Streit?

Theaitetos: Man sieht ja fast nicht, dass sie etwas übrigließe.

Fremder: Du aber, Kind, bei den Göttern, hältst du das für möglich? Denn vielleicht seht ihr Jüngeren hierin schärfer und wir stumpfer!

Theaitetos: [233a] Was doch, und worin meinst du? Denn ich verstehe noch nicht, was du jetzt fragst.

Fremder: Ob es wohl möglich ist, dass irgend ein Mensch alles weiß?

Theaitetos: Glückselig, o Fremdling, wäre dann unser Geschlecht!

Fremder: Wie könnte also wohl je im Widerspruch gegen den Kundigen ein selbst Unkundiger etwas Gesundes vorbringen?

Theaitetos: Auf keine Weise.

Fremder: Was wäre also eigentlich das Geheimnis in diesem sophistischen Kunststück?

Theaitetos: In welchem doch?

Fremder: [b] Auf welche Weise sie wohl imstande sind, den Jünglingen die Meinung beizubringen, dass in allen Dingen unter allen sie die Kundigsten wären? Denn offenbar, wenn sie weder bündig widersprächen, noch jenen es zu tun schienen, oder auch, wenn sie es schienen, aber wegen dieses Streitens um nichts mehr für weise gehalten würden, dann könnten sie, wie du vorher sagtest, warten, bis ihnen jemand Geld gäbe, um eben hierin ihr Schüler zu werden.

Theaitetos: Gewiß, sie könnten warten.

Fremder: Nun aber werden sie es doch?

Theaitetos: Gar sehr.

Fremder: [c] Also haben sie, denke ich, den Schein, dessen kundig zu sein, worüber sie sich streiten?

Theaitetos: Wie sollten sie nicht?

Fremder: Sie tun das aber über alles. Sagen wir so?

Theaitetos: Jawohl.

Fremder: In allen Dingen also scheinen sie ihren Schülern weise zu sein?

Theaitetos: Unbedenklich.

Fremder: Ohne es doch zu sein; denn das hatte sich als unmöglich gezeigt.

Theaitetos: Wie sollte es auch nicht unmöglich sein!


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