28. Das Bild als wirklich-seiendes nichtwirklich Nichtseiendes und das Problem der Verknüpfung des Nichtseienden mit dem Sein


Fremder: [239e] Nun sieht man recht, Theaitetos, dass du noch keinen Sophisten gesehen hast.

Theaitetos: Wieso?

Fremder: Du wirst glauben, er blinzle oder er habe ganz und gar keine Augen.

Theaitetos: Wie das?

Fremder: Wenn du ihm eine solche Antwort gibst und ihm von Spiegeln und Schnitzwerken sagst, wird er dich auslachen mit deiner Rede, wenn du redest, als sähe er, und wird sich anstellen, als wisse er weder von Wasser noch Spiegeln etwas, noch überhaupt vom Gesicht, [240a] und wird dich immer nur aus den Erklärungen fragen.

Theaitetos: Was nur?

Fremder: Das Allgemeine in dem allen, was du eben, da du von vielen sprachst, mit einem Namen bezeichnen wolltest, indem du zu allen »Bild« sagtest, was doch eins ist. So sprich nun und verteidige dich, ohne vor dem Manne irgend zurückzuweichen!

Theaitetos: Was sollten wir also anders sagen, dass ein Bild sei, o Fremdling, als das einem Wahren ähnlich gemachte andere solche?

Fremder: Ein anderes solches Wahres meinst du, oder worauf ziehst du das »solches«? [b]

Theaitetos: Keineswegs doch ein Wahres, sondern ein Scheinbares gewiß.

Fremder: Und meinst du unter dem »Wahren« das wirklich Seiende?

Theaitetos: So meine ich es.

Fremder: Und wie? Unter dem »Nichtwahren« meinst du also das Gegenteil des Wahren?

Theaitetos: Was sonst?

Fremder: Also für nichtseiend erklärst du das Scheinbare, wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst.

Theaitetos: Aber es ist ja doch irgendwie.

Fremder: Nicht jedoch wahrhaft, meinst du?

Theaitetos: Das freilich nicht. Aber Bild ist es doch wirklich.

Fremder: Nichtseiend also nicht wirklich ist wirklich das, was wir eines Seienden Bild nennen?

Theaitetos: [c] In einer solchen Verflechtung scheint freilich das Nichtseiende mit dem Seienden verflochten zu sein, die ganz ungereimt ist.

Fremder: Wie sollte sie auch nicht ungereimt sein? Und du siehst nun doch, wie durch dieses Schnellwechseln der vielköpfige Sophist uns genötigt hat, dem Nichtseienden wider Willen zuzugestehen, dass es irgendwie sei.

Theaitetos: Das sehe ich nur zu gut.

Fremder: Wie nun weiter? Als was können wir endlich seine Kunst bestimmen, um mit uns selbst einig zu werden?

Theaitetos: Wieso und aus welcher Besorgnis sagst du dies?

Fremder: [d] Wenn wir nun sagen, er täusche mit Trugbildern und seine Kunst sei eine täuschende, sagen wir dann, unsere Seele stelle Falsches vor vermittelst seiner Kunst? Oder was sagen wir?

Theaitetos: Dieses; denn was sollten wir anderes sagen?

Fremder: Falsche Vorstellung ist aber, die das Entgegengesetzte von dem, was ist, vorstellt? Oder wie?

Theaitetos: Ja, das Entgegengesetzte.

Fremder: Also sagst du, die falsche Vorstellung stelle Nichtseiendes vor?

Theaitetos: Notwendig.

Fremder: [e] Etwa, dass das Nichtseiende nicht sei, stellt sie vor, oder dass das auf keine Weise Seiende doch irgendwie sei?

Theaitetos: Notwendig doch wohl, dass das Nichtseiende irgendwie sei, wenn sich doch einer auch nur im geringsten täuschen soll.

Fremder: Kann er nicht auch vorstellen, dass das auf alle Weise Seiende keineswegs sei?

Theaitetos: Ja.

Fremder: Auch das also ist falsch?

Theaitetos: Auch das.

Fremder: Und dies beides ist, glaube ich, auf gleiche Weise für eine falsche Rede zu halten, [241a] welche sagt, das Seiende sei nicht, und welche sagt, das Nichtseiende sei.

Theaitetos: Wie könnte eine solche wohl auch anders sein!

Fremder: Wohl schwerlich! Aber dies wird der Sophist nicht zugeben. Und wie könnte auch wohl jemand bei gesunden Sinnen es einräumen, wenn das schon als unaussprechlich, unbeschreiblich, unerklärlich und undenkbar vorher ist zugestanden worden, wovon vor diesem die Rede war? Wir verstehen doch, Theaitetos, was er meint?

Theaitetos: Wie sollten wir nicht verstehen, dass er sagen wird, wir behaupten das Gegenteil von dem Vorigen, wenn wir wagten zu sagen. Falsches sei in Vorstellungen und Reden? [b] Denn wir würden dadurch gar vielfältig genötigt, mit dem Nichtseienden das Seiende zu verknüpfen, nachdem wir nur eben eingestanden, dies sei das Allerunmöglichste.


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