40. Aufstellung von fünf voneinander verschiedenen Hauptbegriffen: das Seiende, Bewegung, Ruhe, das Selbe und das Verschiedene


Fremder: Da wir nun übereingekommen sind, dass einige Begriffe Gemeinschaft mit einander haben wollen, andere nicht und einige wenig, andere viel, andere auch überhaupt nichts hindert, mit allen Gemeinschaft zu haben: [254c] so laß uns nun das Weitere in unserer Rede so nachholen, dass wir nicht etwa an allen Begriffen betrachten, damit wir nicht durch die Menge in Verwirrung geraten, sondern an einigen der wichtigsten vorzugsweise: zuerst, was jeder ist, und dann, wie er sich verhält in Hinsicht des Vermögens der Gemeinschaft mit andern; damit, wenn wir auch das Seiende und Nichtseiende nicht mit völliger Deutlichkeit aufzufassen vermögen, es uns wenigstens an einer Erklärung darüber nicht fehle, soweit es die Art der jetzigen Untersuchung zuläßt, wenn es uns etwa möglich wäre, unbeschädigt davonzukommen, indem wir von dem Nichtseienden sagen, [d] es sei wirklich das Nichtseiende.

Theaitetos: Das müssen wir freilich.

Fremder: Die wichtigsten unter den Begriffen, welche wir vorher durchgingen, sind doch wohl das Seiende selbst und Ruhe und Bewegung.

Theaitetos: Bei weitem.

Fremder: Und die zwei, sagen wir doch, sind mit einander ganz unvereinbar.

Theaitetos: Völlig.

Fremder: Das Seiende aber ist vereinbar mit beiden. Denn sie sind doch beide?

Theaitetos: Wie sollten sie nicht?

Fremder: Das wären also drei Begriffe.

Theaitetos: Freilich.

Fremder: Deren doch jeder verschieden ist von den andern beiden, mit sich selbst aber identisch?

Theaitetos: So ist es. [e]

Fremder: Was haben wir nun aber jetzt wieder gesagt, das Identische und Verschiedene? Sind dies selbst auch zwei von jenen dreien verschiedene, sich aber notwendig immer mit ihnen vermischende Begriffe, und müssen wir also auf fünf und nicht auf drei unsere Aufmerksamkeit richten? Oder haben wir mit diesem Identischen und Verschiedenen nur eines von jenen bezeichnet, ohne es zu wissen? [255a]

Theaitetos: Vielleicht.

Fremder: Aber Bewegung und Ruhe sind doch gewiß weder das Identische noch das Verschiedene.

Theaitetos: Wieso?

Fremder: Was wir der Bewegung und der Ruhe gemeinschaftlich beilegen, das kann doch unmöglich eine von ihnen beiden selbst sein.

Theaitetos: Warum nicht?

Fremder: Die Bewegung wird dann ruhen und die Ruhe hingegen sich bewegen. Denn da alsdann das eine von ihnen, welches du auch wählen wolltest, von beiden gelten müßte,:so würde dadurch das andere genötigt sein, sich in den Gegensatz seiner Natur zu verwandeln, weil es ja an diesem Gegensatz Anteil hätte. [b]

Theaitetos: Offenbar freilich.

Fremder: Nun aber haben doch am Identischen und Verschiedenen beide teil.

Theaitetos: Ja.

Fremder: Also wollen wir nicht sagen, die Bewegung sei etwa das Identische oder Verschiedene, noch auch die Ruhe.

Theaitetos: Freilich nicht.

Fremder: Vielleicht aber ist uns das Seiende und das Selbe als eines zu denken?

Theaitetos: Vielleicht.

Fremder: Aber wenn Seiendes und identisches nicht verschiedenes bedeuten, so würden wir wiederum, indem wir sagen, dass Bewegung und Ruhe beide sind, beide als seiend für dasselbe ausgeben. [c]

Theaitetos: Allein das ist ja unmöglich.

Fremder: Also ist auch unmöglich, dass Identisches und Seiendes eins sind.

Theaitetos: Beinahe.

Fremder: Als einen vierten Begriff zu jenen dreien müssen wir also das Identische setzen?

Theaitetos: Allerdings.

Fremder: Und wie? Sollen wir das Verschiedene als einen fünften setzen? Oder soll man etwa dieses und das Seiende als zwei Namen für einen Begriff denken?

Theaitetos: Das mag wohl sein.

Fremder: Allein ich glaube, du wirst zugeben, dass von dem Seienden einiges an und für sich und einiges nur in Beziehung auf anderes immer so genannt werde.

Theaitetos: Wie sollte ich nicht!

Fremder: [d] Und das Verschiedene immer in Beziehung auf ein anderes. Nicht wahr?

Theaitetos: So ist es.

Fremder: Nicht aber könnte dies so sein, wenn nicht das Seiende und das Verschiedene sich sehr weit von einander entfernten; sondern wenn das Verschiedene ebenfalls an jenen beiden Arten teil hätte wie das Seiende, so gäbe es auch Verschiedenes, was nicht in Beziehung auf ein anderes verschieden wäre. Nun aber ergibt sich doch offenbar, daß, was verschieden ist, dies, was es ist, notwendig in Beziehung auf ein anderes ist.

Theaitetos: Es verhält sich, wie du sagst.

Fremder: Als den fünften müssen wir also die Natur des Verschiedenen angeben unter den Begriffen, die wir gewählt haben. [e]

Theaitetos: Ja.

Fremder: Und durch sie alle, müssen wir sagen, gehe sie hindurch, indem jedes einzelne verschieden ist von den übrigen, nicht vermöge seiner Natur, sondern vermöge seines Anteils an der Idee des Verschiedenen.

Theaitetos: Offenbar allerdings.


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 07:50:05 •
Seite zuletzt aktualisiert: 08.01.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright