
Die tragische Schuld der modernen Antigone
Hinsichtlich der tragischen Schuld zeigt sich nun auch leicht ein Unterschied in dem Modernen, nachdem dieses das Antike in sich aufgenommen hat: denn hiervon kann jetzt allein die Rede sein. Die griechische Antigone partizipiert an des Vaters Schuld kraft ihrer kindlichen Pietät, ebenso auch die moderne. Für jene ist aber Schuld und Leiden des Vaters ein äußeres Faktum, durch welches nicht ihre Trauer hervorgerufen wird (quod non volvit in pectore); und soweit sie selbst, infolge des Naturzusammenhanges, unter des Vaters Schuld leidet, bleibt alles doch in seiner rein objektiven Tatsächlichkeit. Mit unsrer Antigone ist es anders. Ich nehme an, dass Ödipus gestorben ist. Schon während er noch lebte, wusste Antigone von jenem Geheimnis; aber ihr Herz vor dem Vater auszuschütten, dazu fehlt ihr der Mut. Durch des Vaters Tod ist der einzige Ausweg ihr verschlossen, um ihr Herz von dein Geheimnis zu erleichtern. Jetzt es irgend einem lebenden Wesen anzuvertrauen, hieße den Vater beschämen. So ist fortan ihr Leben dem einen Zwecke geweiht, durch ihr unverbrüchliches Schweigen tagaus tagein ihm die letzte Ehre zu erweisen. Über eines bleibt sie indes im Dunkel: ob der Vater selbst es gewußt habe, oder nicht. Hier tritt das Moderne ein: es ist die Unruhe in ihrem Herzeleid, die Amphibolie in ihrem Schmerz. Sie liebt den Vater von ganzer Seele; und diese Liebe ist es, wodurch sie von sich selbst ab- und in die Schuld des Vaters hineingezogen wird. Die Wirkung dieser schmerzerfüllten Liebe ist es, dass sie den Menschen sich fremd fühlt. Ihre Schuld empfindet sie, je inniger sie den Vater liebt; nur bei ihm kann sie Ruhe finden! Als gleich Schuldige wollen sie miteinander Leid tragen. Während er lebte, vermochte sie ihren Kummer ihm nicht anzuvertrauen; wusste er nichts davon, so konnte sie ihn ja in einen ähnlichen Schmerz hinabstürzen. Und dennoch, falls er nichts davon wusste, war die Schuld eine geringere. So ist hier alles bedingt. Wüßte Antigone nicht mit Bestimmtheit den faktischen Zusammenhang, so verlöre sie sehr an Bedeutung: sie hätte nur mit einer Ahnung zu kämpfen. Das ist aber zu wenig tragisch, um unser Interesse in Anspruch zu nehmen. Aber sie weiß alles; innerhalb dieses Wissens bleibt jedoch ein gewisses Nichtwissen, welches die Bekümmernis immer in Gärung erhalten, jeden Augenblick sie in Schmerz verwandeln kann. Hierzu kommt, dass sie in fortdauerndem Kampf mit ihrer Umgebung steht. Ödipus lebt in der Erinnerung des Volkes als ein glücklicher, allgemein geehrter König. Antigone selbst hat ihren Vater so sehr bewundert, wie geliebt. Sie beteiligt sich an jedem Jubel, der zu seinem Preise ausbricht; wie keine andere Jungfrau im ganzen Reiche, schwärmt sie für ihren Vater; ihre Gedanken kehren immer wieder zu ihm zurück; im ganzen Lande wird sie als zärtliche Tochter gepriesen. Und doch ist diese ihre Begeisterung die einzige Art, wie sie ihrem Schmerze Luft machen kann. Ihr Vater liegt ihr beständig im Sinne - aber wie? Dieses ist ihr Schmerzliches Geheimnis. Und dennoch darf sie sich dem Leide nicht hingeben, sich nicht grämen; sie fühlt, wieviel auf ihr ruht, sie fürchtet, daß, sähe man sie also leiden, man auf die Spur käme. So kommt ihr auch von dieser Seite nicht sowohl Leid, als Schmerz.
Auf diese Weise bearbeitet und gründlich durchgearbeitet, glaube ich, könnte Antigone uns wohl recht interessieren; und ihr werdet mir wohl nicht Leichtsinn, oder väterliche Vorliebe zum Vorwurf machen, wenn ich meine: sie dürfe sich schon versuchen, im tragischen Fache und in einer Tragödie aufzutreten. Bis dahin ist sie nur eine epische Figur, und das Tragische an ihr ist nur von epischem Interesse.