Dialektik der tragischen Schuld
Was nun die tragische Schuld betrifft, so liegt sie einerseits in dem Faktum, dass sie den Bruder begräbt, anderseits in dem Konnex mit des Vaters traurigem Geschick, welches aus den zwei vorhergehenden Tragödien stets mitverstanden wird. Hier stehe ich wieder bei einer ganz besondern Dialektik, welche die Schuld des Geschlechts in Beziehung zu dem Individuum letzt. Dieses ist das Ererbte. Übrigens stellt man sich unter Dialektik gewöhnlich etwas Abstraktes vor; man denkt zunächst an logische Gedankenbewegungen. Indes wird das Leben jeden bald lehren, dass es manche Arten Dialektik gibt, dass fast jede Leidenschaft ihre eigne hat. Die Dialektik also, welche die Schuld des Geschlechts oder der Familie mit dem einzelnen Subjekt in Verbindung bringt, so dass dieses nicht mir darunter leidet - denn das ist eine Konsequenz der Natur, gegen welche man umsonst versuchen würde sich zu verhärten -, sondern auch die Schuld mitträgt, oder an dieser partizipiert, diese Dialektik ist uns fremd und hat für uns nichts Zwingendes. Will man indessen an eine Wiedergeburt des Antik-Tragischen denken, so muß jeder für sich an seine eigne Wiedergeburt beuten, nicht bloß in religiös-sittlichem Sinne, sondern bis auf die zeitlichen und endlichen Beziehungen, vom Mutterschoß der Familie und des Geschlechtes her. Die Dialektik, die das Individuum mit Familie und Geschlecht in Verbindung bringt, ist keine subjektive, denn diese hebt gerade die Verbindung auf und setzt das Individuum außerhalb des Zusammenhanges; nein, es ist eine objektive Dialektik. Sie ist wesentlich Pietät. Diese zu bewahren, kann niemandem schaden. In unsern Tagen läßt man wohl für natürliche Verhältnisse gelten, was man für Verhältnisse höherer Art nicht gelten lassen will. So isoliert, so unnatürlich wird man doch nicht sein wollen, dass man die Familie nicht als ein Ganzes betrachten wollte, von welchem man spräche: Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit. Unwillkürlich geschieht dies; und warum anders ist einem Einzelnen so bange, ein anderes Glied der Familie möchte Schande über diese bringen, als weil er fühlt, dass er darunter mitleidet? Dieses Leiden muß der Einzelne offenbar mitnehmen, er mag wollen oder nicht. Man fühlt, dass der Mensch nicht völlig Herr seiner durch die Natur gegebenen Verhältnisse werden könne, wünscht es aber doch soweit wie möglich. Erblickt dagegen der Einzelne in diesem Verhältnisse eines der Lebensmomente und erkennt es in seiner wahren Bedeutung, so kommt dies in der Sphäre des höhern Lebens darin zum Ausdruck, dass das Individuum an der Schuld partizipiert. Immerhin mögen viele nicht fähig sein, diese Konsequenz zu fassen; alsdann vermögen sie aber auch nicht, das Tragische zu fassen. Steht ein Individuum ganz isoliert, so ist es entweder in seinem Übermut unbedingt seines Geschickes eigner Schöpfer, und dabei ist nichts Tragisches, sondern nur das Böse - denn dass einer sich selbst verblendet oder in verkehrten Wahn hingegeben hat, kann nicht tragisch heißen, es ist sein eignes Werk -, oder die Individuen sind nichts als Exemplare des Geschlechts, bloße Modifikationen der ewigen Substanz des Daseins, und alsdann ist gleichfalls das Tragische dahin.