
Furcht und Mitleid
Im vorhergehenden habe ich besonders den Unterschied hervorzuheben gesucht, welcher insoweit zwischen der antiken und der modernen Tragödie stattat, als derselbe sich in der verschiedenen Auffassung der Schuld des Helden ausprägt. Dies ist der eigentliche Brennpunkt, von welchem alles und jedes in seiner unterschiedenen Besonderheit ausstrahlt. Erscheint der Held als der ausgemacht Schuldige, so hat der Monolog seine Stelle verloren; auch ist im Grunde für das Schicksal kein Raum übrig; alsdann wird der Gedanke durchsichtig genug im Dialog hervortreten, sowie die Handlung in der Situation. Dasselbe läßt sich von einer andern Seite ausdrücken, nämlich im Blick auf die Stimmung, welche die Tragödie hervorruft. Bekanntlich fordert Aristoteles, dass die Tragödie bei dem Zuschauer Furcht und Mitleid erwecke. Ich erinnere mich, dass Hegel in seiner Ästhetik sich dieser Forderung anschließt und bei jedem dieser Punkte eine zwiefache Betrachtung anstellt, welche indes nicht gerade erschöpfend ist. Wenn Aristoteles Furcht und Mitleid einander gegenüberstellt, so könnte man hinsichtlich der Furcht wohl an die den einzelnen Momenten zur Seite gehende Stimmung denken, beim Mitleid an die Stimmung, die den definitiven Eindruck des Ganzen ausmacht. Diese Stimmung ist es, welche ich zunächst im Auge habe, weil sie der tragischen Schuld und ihrem Begriffe entspricht. Hegel bemerkt hierüber: es gäbe zwei Arten von Mitleiden, das gewöhnliche, welcher sich an die endliche Seite des Leidens halte, und das wahrhaft tragische Mitleid. Diese Bemerkung ist ganz richtig, jedoch für mich von geringerer Bedeutung, da jene allgemeine Rührung nichts als ein Mißverständnis ist, von welchem freilich sowohl die antike wie die moderne Tragödie betroffen werden kann. Wahr ist aber und tiefer eindringend, was er hinsichtlich des wahren Mitleidens hinzufügt: »Das wahrhafte Mitleiden ist im Gegenteil die Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden« (Bd. III, S. 531). Während aber Hegel das Mitleid erst im allgemeinen, dann die verschiedene Spiegelung desselben in den verschiedenen Individualitäten in Betracht zieht, ziehe ich es vor, die Verschiedenheit des Mitleids vielmehr in seinem Verhältnis zu den Unterschieben der tragischen Schuld hervorzuheben. Um hierauf alsbald hinweisen zu können, will ich »das Leidende«, was in dem Worte »Mitleid« liegt, in seine zwei Teile zerlegen und jedem einzelnen insbesondere das Sympathische beilegen, jedoch so, dass ich über die Stimmung des Zuschauers nichts, was auf seine Willkür hindeuten könnte, auszusagen brauche, sondern in der Weise, dass ich, die Verschiedenheiten seiner Stimmung ausdrückend, hiermit zugleich die der tragischen Schuld ausdrücke. In der antiken Tragödie ist das Leid ein tieferes, der Schmerz ein geringerer, während in der modernen der Schmerz einschneidender, das Leid ein gemäßigteres und ruhigeres ist. Das Leid birgt immer etwas mehr Substantielles (Objektives), als der Schmerz. Dieser deutet stets auf eine Reflexion über das Leiden, welche das Leid nicht kennt. Es ist psychologisch sehr interessant, ein Kind zu beobachten, während es einen Älteren leiden sieht. Das Kind reflektiert nicht genug, um Schmerz zu empfinden, und doch ist sein Leid ein unendlich tiefes. Zu einer Vorstellung von Sünde und Schuld hat es nicht Reflexion genug; daran zu denken bei dem Leiden des Bejahrteren, liegt ihm sehr fern, und dennoch, wiewohl der Grund des Leidens ihm verborgen ist, regt sich eine dunkle Ahnung desselben mitten in seiner Betrübnis. Derselben Art ist, aber in tiefer Harmonie, das griechische Leid; daher ist dieses zu gleicher Zeit so milde und so tief. Sieht dagegen ein Älterer einen Jüngeren, ein Kind leiden, dann ist die Schmerzempfindung größer, das Leid geringer. Je mehr das Bewußtsein einer Schuld hervortritt, desto größer ist der Schmerz, um so weniger tief aber das Leid, das mitfühlende Leid. Macht man nun hiervon eine Anwendung auf das Verhältnis zwischen antiker und moderner Tragödie, so darf man sagen: in der antiken Tragödie selbst ist das Leid ein tieferes, und demzufolge auch in dem Bewußtsein, welches ihm entspricht. Man sage sich nämlich beständig: Ich bin's nicht, an dem es liegt, sondern die Tragödie; ich aber habe mich in das griechische Bewußtsein hineinzuleben, um das in der griechischen Tragödie waltende Leid richtig zu verstehen. Wie oft ist es nur ein gedanken-loses Nachsprechen, wenn so manche die griechische Tragödie bewundern. Denn so viel liegt zu Tage, dass unsre Zeit wenigstens für das, was eigentlich Gegenstand des griechischen Leides ist, keine sonderliche Sympathie hat. Das Leid ist darum ein tieferes, weil die Schuld die ästhetische Zweideutigkeit an sich trägt. In neuerer Zeit ist der Schmerz vorwiegend. »Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen,« dieses Wort könnte man füglich der griechischen Tragödie zur Überschrift geben. Ja, furchtbar ist der Zorn der Götter; dennoch ist der Schmerz darüber kein so großer, wie in der modernen Tragödie, wo der Held seine ganze Schuld persönlich zu büßen hat, sich selbst durchsichtig in seinem verschuldeten Leiden. Hier gilt es nun, ähnlich wie an der tragischen Schuld, an dem Leibe nachzuweisen, welches das wahrhaft ästhetische Leid sei, und welches der wahrhaft ästhetische Schmerz. Der bitterste Seelenschmerz ist nun offenbar die Reue; aber die Reue hat ethische, nicht ästhetische Bedeutung. Sie ist darum der bitterste Schmerz, weil ihr die totale Durchsichtigkeit der ganzen Schuld gegeben ist; aber gerade dieser Durchsichtigkeit wegen erregt sie kein ästhetisches Interesse. Der Reue ist eine Heiligkeit eigen, durch welche das Ästhetische in Schatten gestellt wird; sie will sich nicht sehen lassen, am wenigsten vom Publikum, und nimmt eine ganz andere Art von Selbsttätigkeit in Anspruch. Freilich hat das neuere Drama, selbst die Komödie, zuweilen auch die Reue auf die Bühne gebracht, worin sich aber nur der Unverstand des Dichters zeigte. Man hat an das psychologische Interesse erinnert, welches doch der Anblick einer solchen Schilderung haben könne; das psychologische Interesse ist aber wieder nicht das ästhetische. Dies gehört mit zu der Verwirrung, die sich in unsern Tagen so vielfältig geltend macht. Man sucht eine Sache, wo man sie nicht suchen sollte, und, was noch schlimmer ist, man findet sie, wo man sie nicht finden sollte. Im Theater läßt man sich erbauen, in der Kirche ästhetisch anregen; durch Romane will man bekehrt werden, an Erbauungsbüchern seinen »Genuß« finden; man will auf der Kanzel die Philosophie haben und auf dem Katheder den Prediger. - Der vorhin erwähnte Schmerz ist also nicht der ästhetische, und doch unstreitig derjenige, auf den unsre Zeit hinarbeitet, als auf das höchste tragische Interesse. Ebenso verhält es sich hinsichtlich der tragischen Schuld. Die Gegenwart hat alle objektiven Begriffe von Familie und Geschlecht, Staat und Kirche verloren; sie muß den Einzelnen daher völlig sich selbst überlassen, so dass dieser, genau genommen, sein eigner Schöpfer wird. Die Schuld ist also dann Sünde, ihr Schmerz Reue, womit das Tragische aber aufhört. Auch die in strengerm Sinne »leidende« Tragödie hat im Grunde ihr tragisches Interesse eingebüßt: denn die Macht, von der das Leiden herstammt, ist heute um ihre Bedeutung gekommen, und der Zuschauer ruft: »Hilf dir selber, alsdann wird der Himmel dir helfen!« Mit andern Worten: der Zuschauer, d.h. das Kind dieser Zeit, hat das Mit-Leiden verlernt; aber im subjektiven Sinne sowohl wie im objektiven ist gerade das Mit-Leiden der eigentliche Ausdruck für das Tragische.