Vorurteile, deren Quellen und Hauptarten


Von den vorläufigen Urteilen müssen die Vorurteile unterschieden werden.

Vorurteile sind vorläufige Urteile, in so ferne sie als Grundsätze angenommen werden. — Ein jedes Vorurteil ist als ein Prinzip irriger Urteile anzusehen und aus Vorurteilen entspringen nicht Vorurteile, sondern irrige Urteile. — Man muß daher die falsche Erkenntnis, die aus dem Vorurteil entspringt, von ihrer Quelle, dem Vorurteil selbst, unterscheiden. So ist z. B. die Bedeutung der Träume an sich selbst kein Vorurteil, sondern ein Irrtum, der aus der angenommenen allgemeinen Regel entspringt: Was einigemal eintrifft, trifft immer ein oder ist immer für wahr zu halten. Und dieser Grundsatz, unter welchen die Bedeutung der Träume mit gehört, ist ein Vorurteil.

Zuweilen sind die Vorurteile wahre vorläufige Urteile; nur daß sie uns als Grundsätze oder als bestimmende Urteile gelten, ist unrecht. Die Ursache von dieser Täuschung ist darin zu suchen, daß subjektive Gründe fälschlich für objektive gehalten werden, aus Mangel an Überlegung, die allem Urteilen vorher gehen muß. Denn können wir auch manche Erkenntnisse, z. B. die unmittelbar gewissen Sätze, annehmen, ohne sie zu untersuchen, d. h. ohne die Bedingungen ihrer Wahrheit zu prüfen: so können und dürfen wir doch über nichts urteilen, ohne zu überlegen, d. h. ohne ein Erkenntnis mit der Erkenntniskraft, woraus es entspringen soll (der Sinnlichkeit oder dem Verstande), zu vergleichen. Nehmen wir nun ohne diese Überlegung, die auch da nötig ist, wo keine Untersuchung statt findet, Urteile an: so entstehen daraus Vorurteile, oder Prinzipien zu urteilen aus subjektiven Ursachen, die fälschlich für objektive Gründe gehalten werden.

Die Hauptquellen der Vorurteile sind: Nachahmung, Gewohnheit und Neigung.

Die Nachahmung hat einen allgemeinen Einfluß auf unsre Urteile; denn es ist ein starker Grund, das für wahr zu halten, was andre dafür ausgegeben haben. Daher das Vorurteil : Was alle Welt tut, ist Recht. — Was die Vorurteile betrifft, die aus der Gewohnheit entsprungen sind, so können sie nur durch die Länge der Zeit ausgerottet werden, indem der Verstand, durch Gegengründe nach und nach im Urteilen aufgehalten und verzögert, dadurch allmählich zu einer entgegengesetzten Denkart gebracht wird. Ist aber ein Vorurteil der Gewohnheit zugleich durch Nachahmung entstanden: so ist der Mensch, der es besitzt, davon schwerlich zu heilen. — Ein Vorurteil aus Nachahmung kann man auch den Hang zum passiven Gebrauch der Vernunft nennen; oder zum Mechanism der Vernunft, statt der Spontaneität derselben unter Gesetzen.

Vernunft ist zwar ein tätiges Prinzip, das nichts von bloßer Autorität anderer, auch nicht einmal, wenn es ihren reinen Gebrauch gilt, von der Erfahrung entlehnen soll. Aber die Trägheit sehr vieler Menschen macht, daß sie lieber in anderer Fußtapfen treten, als ihre eigenen Verstandeskräfte anstrengen. Dergleichen Menschen können immer nur Kopien von andern werden, und wären alle von der Art, so würde die Welt ewig auf einer und derselben Stelle bleiben.

Es ist daher höchst nötig und wichtig: die Jugend nicht, wie es gewöhnlich geschieht, zum bloßen Nachahmen anzuhalten.

Es gibt so manche Dinge, die dazu beitragen, uns die Maxime der Nachahmung anzugewöhnen und dadurch die Vernunft zu einem fruchtbaren Boden von Vorurteilen zu machen. Zu dergleichen Hülfsmitteln der Nachahmung gehören

1) Formeln. — Dieses sind Regeln, deren Ausdruck zum Muster der Nachahmung dient. Sie sind übrigens ungemein nützlich zur Erleichterung bei verwickelten Sätzen und der erleuchtetste Kopf sucht daher dergleichen zu erfinden.

2) Sprüche, deren Ausdruck eine große Abgemessenheit eines prägnanten Sinnes hat, so daß es scheint, man könne den Sinn nicht mit weniger Worten umfassen. — Dergleichen Aussprüche (dieta), die immer von andern entlehnt werden müssen, denen man eine gewisse Unfehlbarkeit zutraut, dienen, um dieser Autorität willen, zur Regel und zum Gesetz. — Die Aussprüche der Bibel heißen Sprüche kat' exochen.

3) Sentenzen, d. i. Sätze, die sich empfehlen und ihr Ansehen oft Jahrhunderte hindurch erhalten, als Produkte einer reifen Urteilskraft durch den Nachdruck der Gedanken, die darin liegen.

4) Canones. — Dieses sind allgemeine Lehrsprüche, die den Wissenschaften zur Grundlage dienen und etwas Erhabenes und Durchdachtes andeuten. Man kann sie noch auf eine sententiöse Art ausdrücken, damit sie desto mehr gefallen.

5) Sprüchwörter (proverbia). — Dieses sind populäre Regeln des gemeinen Verstandes oder Ausdrücke zu Bezeichnung der populären Urteile desselben. — Da dergleichen bloß provinziale Sätze nur dem gemeinen Pöbel zu Sentenzen und Kanonen dienen: so sind sie bei Leuten von feinerer Erziehung nicht anzutreffen.

 

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Aus den vorhin angegebenen drei allgemeinen Quellen der Vorurteile, und insbesondre aus der Nachahmung, entspringen nun so manche besondre Vorurteile, unter denen wir folgende, als die gewöhnlichsten, hier berühren wollen.

I) Vorurteile des Ansehens. — Zu diesen ist zu rechnen:

a) das Vorurteil des Ansehens der Person. — Wenn wir in Dingen, die auf Erfahrung und Zeugnissen beruhen, unsre Erkenntnis auf das Ansehen andrer Personen bauen: so machen wir uns dadurch keiner Vorurteile schuldig; denn in Sachen dieser Art muß, da wir nicht alles selbst erfahren, und mit unserm eigenen Verstande umfassen können, das Ansehen der Person die Grundlage unsrer Urteile sein. — Wenn wir aber das Ansehen anderer zum Grunde unsers Fürwahrhaltens in Absicht auf Vernunfterkenntnisse machen: so nehmen wir diese Erkenntnisse auf bloßes Vorurteil an. Denn Vernunftwahrheiten gelten anonymisch; hier ist nicht die Frage: Wer hat es gesagt, sondern was hat er gesagt? Es liegt nichts daran, ob ein Erkenntnis von edler Herkunft ist; aber dennoch ist der Hang zum Ansehen großer Männer sehr gemein, teils wegen der Eingeschränktheit eigner Einsicht, teils aus Begierde, dem nachzuahmen, was uns als groß beschrieben wird. Hierzu kommt noch: daß das Ansehen der Person dazu dient, unsrer Eitelkeit auf eine indirekte Weise zu schmeicheln. So wie nämlich die Untertanen eines mächtigen Despoten stolz darauf sind, daß sie nur alle gleich von ihm behandelt werden, indem der Geringste mit dem Vornehmsten in so ferne sich gleich dünken kann, als sie beide gegen die unumschränkte Macht ihres Beherrschers nichts sind: so beurteilen sich auch die Verehrer eines großen Mannes als gleich, so fern die Vorzüge, die sie unter einander selbst haben mögen, gegen die Verdienste des großen Mannes betrachtet, für unbedeutend zu achten sind. — Die hochgepriesenen großen Männer tun daher dem Hange zum Vorurteile des Ansehens der Person aus mehr als einem Grunde keinen geringen Vorschub.

b) Das Vorurteil des Ansehens der Menge. — Zu diesem Vorurteil ist hauptsächlich der Pöbel geneigt. Denn da er die Verdienste, die Fähigkeiten und Kenntnisse der Person nicht zu beurteilen vermag: so hält er sich lieber an das Urteil der Menge, unter der Voraussetzung, daß das, was alle sagen, wohl wahr sein müsse. Indessen bezieht sich dieses Vorurteil bei ihm nur auf historische Dinge; in Religionssachen, bei denen er selbst interessiert ist, verläßt er sich auf das Urteil der Gelehrten.

Es ist überhaupt merkwürdig, daß der Unwissende ein Vorurteil für die Gelehrsamkeit hat und der Gelehrte dagegen wiederum ein Vorurteil für den gemeinen Verstand. —

Wenn dem Gelehrten, nachdem er den Kreis der Wissenschaften schon ziemlich durchgelaufen ist, alle seine Bemühungen nicht die gehörige Genugtuung verschaffen: so bekommt er zuletzt ein Mißtrauen gegen die Gelehrsamkeit, insbesondre in Ansehung solcher Spekulationen, wo die Begriffe nicht sinnlich gemacht werden können, und deren Fundamente schwankend sind, wie z. B. in der Metaphysik. Da er aber doch glaubt, der Schlüssel zur Gewißheit über gewisse Gegenstände müsse irgendwo zu finden sein: so sucht er ihn nun beim gemeinen Verstande, nachdem er ihn so lange vergebens auf dem Wege des wissenschaftlichen Nachforschens gesucht hatte.

Allein diese Hoffnung ist sehr trüglich; denn wenn das kultivierte Vernunftvermögen in Absicht auf die Erkenntnis gewisser Dinge nichts ausrichten kann, so wird es das unkultivierte sicherlich eben so wenig. In der Metaphysik ist die Berufung auf die Aussprüche des gemeinen Verstandes überall ganz unzulässig, weil hier kein Fall in concreto kann dargestellt werden. Mit der Moral hat es aber freilich eine andre Bewandtnis. Nicht nur können in der Moral alle Regeln in concreto gegeben werden, sondern die praktische Vernunft offenbart sich auch überhaupt klärer und richtiger durch das Organ des gemeinen als durch das des spekulativen Verstandesgebrauchs. Daher der gemeine Verstand über Sachen der Sittlichkeit und Pflicht oft richtiger urteilt als der spekulative.

c) Das Vorurteil des Ansehens des Zeitalters. — Hier ist das Vorurteil des Altertums eines der bedeutendsten. — Wir haben zwar allerdings Grund, vom Altertum günstig zu urteilen; aber das ist nur ein Grund zu einer gemäßigten Achtung, deren Grenzen wir nur zu oft dadurch überschreiten, daß wir die Alten zu Schatzmeistern der Erkenntnisse und Wissenschaften machen, den relativen Wert ihrer Schriften zu einem absoluten erheben und ihrer Leitung uns blindlings anvertrauen. — Die Alten so übermäßig schätzen heißt: den Verstand in seine Kinderjahre zurückführen und den Gebrauch des selbsteigenen Talentes vernachlässigen. — Auch würden wir uns sehr irren, wenn wir glaubten, daß alle aus dem Altertum so klassisch geschrieben hätten, wie die, deren Schriften bis auf uns gekommen sind. Da nämlich die Zeit alles sichtet und nur das sich erhält, was einen innern Wert hat: so dürfen wir nicht ohne Grund annehmen, daß wir nur die besten Schriften der Alten besitzen.

Es gibt mehrere Ursachen, durch die das Vorurteil des Altertums erzeugt und unterhalten wird. —

Wenn etwas die Erwartung nach einer allgemeinen Regel übertrifft: so verwundert man sich anfangs darüber und diese Verwunderung geht sodann oft in Bewunderung über. Dieses ist der Fall mit den Alten, wenn man bei ihnen etwas findet, was man, in Rücksicht auf die Zeitumstände, unter welchen sie lebten, nicht suchte. — Eine andre Ursache liegt in dem Umstande, daß die Kenntnis von den Alten und dem Altertum eine Gelehrsamkeit und Belesenheit beweist, die sich immer Achtung erwirbt, so gemein und unbedeutend die Sachen an sich selbst sein mögen, die man aus dem Studium der Alten geschöpft hat. — Eine dritte Ursache ist die Dankbarkeit, die wir den Alten dafür schuldig sind, daß sie uns die Bahn zu vielen Kenntnissen gebrochen. Es scheint billig zu sein, ihnen dafür eine besondre Hochschätzung zu beweisen, deren Maß wir aber oft überschreiten. — Eine vierte Ursache ist endlich zu suchen in einem gewissen Neide gegen die Zeitgenossen. Wer es mit den Neuern nicht aufnehmen kann, preiset auf Unkosten derselben die Alten hoch, damit sich die Neuern nicht über ihn erheben können. —

Das entgegengesetzte von diesem ist das Vorurteil der Neuigkeit. — Zuweilen fiel das Ansehen des Altertums und das Vorurteil zu Gunsten desselben; insbesondre im Anfange dieses Jahrhunderts, als der berühmte Fontenelle sich auf die Seite der Neuern schlug. — Bei Erkenntnissen, die einer Erweiterung fähig sind, ist es sehr natürlich, daß wir in die Neuern mehr Zutrauen setzen, als in die Alten. Aber dieses Urteil hat auch nur Grund als ein bloßes vorläufiges Urteil. Machen wir es zu einem bestimmenden: so wird es Vorurteil.

2) Vorurteile aus Eigenliebe oder logischem Egoismus, nach welchem man die Übereinstimmung des eigenen Urteils mit den Urteilen anderer für ein entbehrliches Kriterium der Wahrheit hält. — Sie sind den Vorurteilen des Ansehens entgegen gesetzt, da sie sich in einer gewissen Vorliebe für das äußern, was ein Produkt des eigenen Verstandes ist, z. B. des eigenen Lehrgebäudes.

 

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Ob es gut und ratsam sei, Vorurteile stehen zu lassen oder sie wohl gar zu begünstigen? — Es ist zum Erstaunen, daß in unserm Zeitalter dergleichen Fragen, besonders die wegen Begünstigung der Vorurteile, noch können aufgegeben werden. Jemandes Vorurteile begünstigen heißt eben so viel als jemanden in guter Absicht betrügen. — Vorurteile unangetastet lassen ginge noch an; denn wer kann sich damit beschäftigen, eines jeden Vorurteile aufzudecken und wegzuschaffen? Ob es aber nicht ratsam sein sollte, an ihrer Ausrottung mit allen Kräften zu arbeiten? — das ist doch eine andre Frage. Alte und eingewurzelte Vorurteile sind freilich schwer zu bekämpfen, weil sie sich selbst verantworten und gleichsam ihre eigenen Richter sind. Auch sucht man das Stehenlassen der Vorurteile damit zu entschuldigen, daß aus ihrer Ausrottung Nachteile entstehen würden. Aber man lasse diese Nachteile nur immer zu; — in der Folge werden sie desto mehr Gutes bringen.


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