Falschheit und Irrtum


Das Gegenteil von der Wahrheit ist die Falschheit, welche, so fern sie für Wahrheit gehalten wird, Irrtum heißt. Ein irriges Urteil — denn Irrtum sowohl als Wahrheit ist nur im Urteile — ist also ein solches, welches den Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechselt.

Wie Wahrheit möglich sei: — das ist leicht einzusehen, da hier der Verstand nach seinen wesentlichen Gesetzen handelt.

Wie aber Irrtum in formaler Bedeutung des Worts, d. h. wie die verstandeswidrige Form des Denkens möglich sei: das ist schwer zu begreifen, so wie es überhaupt nicht zu begreifen ist, wie irgend eine Kraft von ihren eigenen wesentlichen Gesetzen abweichen solle. — Im Verstande selbst und dessen wesentlichen Gesetzen können wir also den Grund der Irrtümer nicht suchen, so wenig als in den Schranken des Verstandes, in denen zwar die Ursache der Unwissenheit, keinesweges aber des Irrtumes liegt. Hätten wir nun keine andre Erkenntniskraft als den Verstand: so würden wir nie irren. Allein es liegt, außer dem Verstande, noch eine andre unentbehrliche Erkenntnisquelle in uns. Das ist die Sinnlichkeit, die uns den Stoff zum Denken gibt und dabei nach andern Gesetzen wirkt, als der Verstand. — Aus der Sinnlichkeit, an und für sich selbst betrachtet, kann aber der Irrtum auch nicht entspringen, weil die Sinne gar nicht urteilen.

Der Entstehungsgrund alles Irrtums wird daher einzig und allein in dem unvermerkten Einflüsse der Sinnlichkeit auf den Verstand, oder, genauer zu reden, auf das Urteil, gesucht werden müssen. Dieser Einfluß nämlich macht, daß wir im Urteilen bloß subjektive Gründe für objektive halten und folglich den bloßen Schein der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechseln. Denn darin besteht eben das Wesen des Scheins, der um deswillen als ein Grund anzusehen ist, eine falsche Erkenntnis für wahr zu halten.

Was den Irrtum möglich macht, ist also der Schein, nach welchem im Urteile das bloß Subjektive mit dem Objektiven verwechselt wird.

In gewissem Sinne kann man wohl den Verstand auch zum Urheber der Irrtümer machen, so fern er nämlich aus Mangel an erforderlicher Aufmerksamkeit auf jenen Einfluß der Sinnlichkeit sich durch den hieraus entsprungenen Schein verleiten läßt, bloß subjektive Bestimmungsgründe des Urteils für objektive zu halten, oder das, was nur nach Gesetzen der Sinnlichkeit wahr ist, für wahr nach seinen eigenen Gesetzen gelten zu lassen.

Nur die Schuld der Unwissenheit liegt demnach in den Schranken des Verstandes; die Schuld des Irrtums haben wir uns selbst beizumessen. Die Natur hat uns zwar viele Kenntnisse versagt, sie läßt uns über so manches in einer unvermeidlichen Unwissenheit; aber den Irrtum verursacht sie doch nicht. Zu diesem verleitet uns unser eigener Hang zu urteilen und zu entscheiden, auch da, wo wir wegen unsrer Begrenztheit zu urteilen und zu entscheiden nicht vermögend sind. 

 

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Aller Irrtum, in welchen der menschliche Verstand geraten kann, ist aber nur partial, und in jedem irrigen Urteile muß immer etwas Wahres liegen. Denn ein totaler Irrtum wäre ein gänzlicher Widerstreit wider die Gesetze des Verstandes und der Vernunft. Wie könnte er, als solcher, auf irgend eine Weise aus dem Verstande kommen, und, so fern er doch ein Urteil ist, für ein Produkt des Verstandes gehalten werden!

In Rücksicht auf das Wahre und Irrige in unserer Erkenntnis unterscheiden wir ein genaues von einem rohen Erkenntnisse. —

Genau ist das Erkenntnis, wenn es seinem Objekt angemessen ist, oder wenn in Ansehung seines Objekts nicht der mindeste Irrtum statt findet; — roh ist es, wenn Irrtümer darin sein können, ohne eben der Absicht hinderlich zu sein.

Dieser Unterschied betrifft die weitere oder engere Bestimmtheit unsers Erkenntnisses (cognitio late vel stricte determinata). — Anfangs ist es zuweilen nötig, ein Erkenntnis in einem weitern Umfange zu bestimmen (late determinare), besonders in historischen Dingen. In Vernunfterkenntnissen aber muß alles genau (stricte) bestimmt sein. Bei der laten Determination sagt man: ein Erkenntnis sei praeter propter determiniert. Es kommt immer auf die Absicht eines Erkenntnisses an, ob es roh oder genau bestimmt sein soll. Die late Determination läßt noch immer einen Spielraum für den Irrtum übrig, der aber doch seine bestimmten Grenzen haben kann. Irrtum findet besonders da statt, wo eine late Determination für eine strikte genommen wird, z. B. in Sachen der Moralität, wo alles strikte determiniert sein muß. Die das nicht tun, werden von den Engländern Latitudinarier genannt.

Von der Genauigkeit, als einer objektiven Vollkommenheit des Erkenntnisses — da das Erkenntnis hier völlig mit dem Objekt kongruiert — kann man noch die Subtilität als eine subjektive Vollkommenheit desselben unterscheiden.

Ein Erkenntnis von einer Sache ist subtil, wenn man darin dasjenige entdeckt, was anderer Aufmerksamkeit zu entgehen pflegt. Es erfordert also einen höhern Grad von Aufmerksamkeit und einen größern Aufwand von Verstandeskraft.

Viele tadeln alle Subtilität, weil sie sie nicht erreichen können. Aber sie macht an sich immer dem Verstande Ehre und ist sogar verdienstlich und notwendig, so fern sie auf einen der Beobachtung würdigen Gegenstand angewandt wird. — Wenn man aber mit einer geringern Aufmerksamkeit und Anstrengung des Verstandes denselben Zweck hätte erreichen können, und man verwendet doch mehr darauf: so macht man unnützen Aufwand und verfällt in Subtilitäten, die zwar schwer sind, aber zu nichts nützen (nugae difficiles). —

So wie dem Genauen das Rohe, so ist dem Subtilen das Grobe entgegengesetzt. 

 

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Seite zuletzt aktualisiert: 05.06.2006 
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