Schein, als Quelle des Irrtums


Aus der Natur des Irrtums, in dessen Begriffe, wie wir bemerkten, außer der Falschheit, noch der Schein der Wahrheit als ein wesentliches Merkmal enthalten ist, ergibt sich für die Wahrheit unsers Erkenntnisses folgende wichtige Regel:

Um Irrtümer zu vermeiden — und unvermeidlich ist wenigstens absolut oder schlechthin kein Irrtum, ob er es gleich beziehungsweise sein kann für die Fälle, da es, selbst auf die Gefahr zu irren, unvermeidlich für uns ist, zu urteilen — also um Irrtümer zu vermeiden, muß man die Quelle derselben, den Schein, zu entdecken und zu erklären suchen. Das haben aber die wenigsten Philosophen getan. Sie haben nur die Irrtümer selbst zu widerlegen gesucht, ohne den Schein anzugeben, woraus sie entspringen. Diese Aufdeckung und Auflösung des Scheines ist aber ein weit größeres Verdienst um die Wahrheit als die direkte Widerlegung der Irrtümer selbst, wodurch man die Quelle derselben nicht verstopfen und es nicht verhüten kann, daß nicht der nämliche Schein, weil man ihn nicht kennt, in andern Fällen wiederum zu Irrtümern verleite. Denn sind wir auch überzeugt worden, daß wir geirrt haben: so bleiben uns doch, im Fall der Schein selbst, der unserm Irrtume zum Grunde liegt, nicht gehoben ist, noch Skrupel übrig, so wenig wir auch zu deren Rechtfertigung vorbringen können.

Durch Erklärung des Scheins läßt man überdies auch dem Irrenden eine Art von Billigkeit widerfahren. Denn es wird niemand zugeben, daß er ohne irgend einen Schein der Wahrheit geirrt habe, der vielleicht auch einen Scharfsinnigem hätte täuschen können, weil es hierbei auf subjektive Gründe ankommt.

Ein Irrtum, wo der Schein auch dem gemeinen Verstande (sensus communis) offenbar ist, heißt eine Abgeschmaktheit oder Ungereimtheit. Der Vorwurf der Absurdität ist immer ein persönlicher Tadel, den man vermeiden muß, insbesondre bei Widerlegung der Irrtümer.

Denn demjenigen, welcher eine Ungereimtheit behauptet, ist selbst doch der Schein, der dieser offenbaren Falschheit zum Grunde liegt, nicht offenbar. Man muß ihm diesen Schein erst offenbar machen. Beharrt er auch alsdann noch dabei, so ist er freilich abgeschmackt; aber dann ist auch weiter nichts mehr mit ihm anzufangen. Er hat sich dadurch aller weitern Zurechtweisung und Widerlegung eben so unfähig als unwürdig gemacht. Denn man kann eigentlich keinem beweisen, daß er ungereimt sei; hierbei wäre alles Vernünfteln vergeblich. Wenn man die Ungereimtheit beweist: so redet man nicht mehr mit dem Irrenden, sondern mit dem Vernünftigen. Aber da ist die Aufdeckung der Ungereimtheit (deductio ad absurdum) nicht nötig.

Einen abgeschmackten Irrtum kann man auch einen solchen nennen, dem nichts, auch nicht einmal der Schein zur Entschuldigung dient; so wie ein grober Irrtum ein Irrtum ist, welcher Unwissenheit im gemeinen Erkenntnisse oder Verstoß wider gemeine Aufmerksamkeit beweiset.

Irrtum in Prinzipien ist größer als in ihrer Anwendung

 

* * *


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 12:33:27 •
Seite zuletzt aktualisiert: 05.06.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright