Unterschied zwischen analytischer und synthetischer Deutlichkeit


Da es, wie wir bemerkt haben, das Geschäft der Logik ist, klare Begriffe deutlich zu machen: so fragt es sich nun: Auf welche Art sie dieselben deutlich mache? —

Die Logiker aus der Wolffischen Schule setzen alle Deutlichmachung der Erkenntnisse in die bloße Zergliederung derselben. Allein nicht alle Deutlichkeit beruht auf der Analysis eines gegebenen Begriffs. Dadurch entsteht sie nur in Ansehung derjenigen Merkmale, die wir schon in dem Begriffe dachten, keinesweges aber in Rücksicht auf die Merkmale, die zum Begriffe erst hinzukommen, als Teile des ganzen möglichen Begriffs.

Diejenige Art der Deutlichkeit, die nicht durch Analysis, sondern durch Synthesis der Merkmale entspringt, ist die synthetische Deutlichkeit. Und es ist also ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sätzen: Einen deutlichen Begriff machen und — einen Begriff deutlich machen.

Denn wenn ich einen deutlichen Begriff mache: so fange ich von den Teilen an und gehe von diesen zum Ganzen fort. Es sind hier noch keine Merkmale vorhanden; ich erhalte dieselben erst durch die Synthesis. Aus diesem synthetischen Verfahren geht also die synthetische Deutlichkeit hervor, welche meinen Begriff durch das, was über denselben in der (reinen oder empirischen) Anschauung als Merkmal hinzukommt, dem Inhalte nach wirklich erweitert. — Dieses synthetischen Verfahrens in Deutlichmachung der Begriffe bedient sich der Mathematiker und auch der Natur-Philosoph. Denn alle Deutlichkeit des eigentlich mathematischen so wie alles Erfahrungserkenntnisses beruht auf einer solchen Erweiterung desselben durch Synthesis der Merkmale.

Wenn ich aber einen Begriff deutlich mache: so wächst durch diese bloße Zergliederung mein Erkenntnis ganz und gar nicht dem Inhalte nach. Dieser bleibt derselbe; nur die Form wird verändert, indem ich das, was in dem gegebenen Begriffe schon lag, nur besser unterscheiden oder mit klarerem Bewußtsein erkennen lerne. So wie durch die bloße Illumination einer Karte zu ihr selbst nichts weiter hinzukommt: so wird auch durch die bloße Aufhellung eines gegebenen Begriffs, vermittelst der Analysis seiner Merkmale, dieser Begriff selbst nicht im mindesten vermehrt.

Zur Synthesis gehört die Deutlichmachung der Objekte, zur Analysis die Deutlichmachung der Begriffe. Hier geht das Ganze den Teilen, dort gehen die Teile dem Ganzen vorher. — Der Philosoph macht nur gegebene Begriffe deutlich. — Zuweilen verfährt man synthetisch, auch wenn der Begriff, den man auf diese Art deutlich machen will, schon gegeben ist. Dieses findet oft statt bei Erfahrungssätzen, wofern man mit den, in einem gegebenen Begriffe schon gedachten, Merkmalen noch nicht zufrieden ist.

Das analytische Verfahren, Deutlichkeit zu erzeugen, womit sich die Logik allein beschäftigen kann, ist das erste und hauptsächlichste, Erfordernis bei der Deutlichmachung unsers Erkenntnisses. Denn je deutlicher unser Erkenntnis von einer Sache ist: um so stärker und wirksamer kann es auch sein. Nur muß die Analysis nicht so weit gehen, daß darüber der Gegenstand selbst am Ende verschwindet.

Wären wir uns alles dessen bewußt, was wir wissen: so müßten wir über die große Menge unserer Erkenntnisse erstaunen.

 

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In Ansehung des objektiven Gehaltes unserer Erkenntnis überhaupt lassen sich folgende Grade denken, nach welchen dieselbe in dieser Rücksicht kann gesteigert werden:

Der erste Grad der Erkenntnis ist: sich etwas vorstellen;

Der zweite: sich mit Bewußtsein etwas vorstellen oder wahrnehmen (percipere);

Der dritte: etwas kennen (noscere) oder sich etwas in der Vergleichung mit andern Dingen vorstellen sowohl der Einerleiheit als der Verschiedenheit nach;

Der vierte: mit Bewußtsein etwas kennen, d.h. erkennen (cognoscere). Die Tiere kennen auch Gegenstände, aber sie erkennen sie nicht.

Der fünfte: etwas verstehen (intelligere), d.h. durch den Verstand vermöge der Begriffe erkennen oder konzipieren. Dieses ist vom Begreifen sehr unterschieden. Konzipieren kann man vieles, obgleich man es nicht begreifen kann, z. B. ein perpetuum mobile, dessen Unmöglichkeit in der Mechanik gezeigt wird.

Der sechste: etwas durch die Vernunft erkennen oder einsehen (perspicere). — Bis dahin gelangen wir in wenigen Dingen und unsre Erkenntnisse werden der Zahl nach immer geringer, je mehr wir sie dem Gehalte nach vervollkommnen wollen.

Der siebente endlich: etwas begreifen (comprehendere), d. h. in dem Grade durch die Vernunft oder a priori erkennen, als zu unsrer Absicht hinreichend ist. — Denn alles unser Begreifen ist nur relativ, d.h. zu einer gewissen Absicht hinreichend, schlechthin begreifen wir gar nichts. — Nichts kann mehr begriffen werden, als was der Mathematiker demonstriert, z. B. daß alle Linien im Zirkel proportional sind. Und doch begreift er nicht: wie es zugehe, daß eine so einfache Figur diese Eigenschaften habe. Das Feld des Verstehens oder des Verstandes ist daher überhaupt weit größer als das Feld des Begreifens oder der Vernunft.  


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