2. Die pythagoreische Lehre
Das Wenige, was wir von der pythagoreischen Lehre mit einiger Sicherheit wissen, ist uns nicht als Lehre des Meisters selbst, sondern erst durch die Fragmente des eben genannten Philolaos (herausgegeben und bearbeitet von Boeckh, Berlin 1819, ein Teil derselben ist unecht) überliefert. Einige Gelehrte (Brandis, Windelband) haben daher den Pythagoras selbst von der pythagoreischen Philosophie unterschieden und letztere erst an späterer Stelle, unmittelbar vor den Sophisten, abgehandelt; sie berufen sich dabei auch auf Aristoteles (Metaphysik, I, 5), der in der Tat nur von den »sogenannten Pythagoreern« spricht. Da indessen über diese Verschiedenheit nichts Sicheres auszumachen ist, so behandeln wir die nach Pythagoras benannte Philosophie schon an dieser Stelle, zumal da keine der folgenden Lehren mit voller Sicherheit von ihr berücksichtigt erscheint.
a) Grundprinzip. Die archê, das Grundprinzip der Pythagoreer, ist die Zahl: also nicht mehr ein sinnlicher Stoff, sondern ein Gedankending. Als Ausgangspunkt ihrer Zahlenspekulation haben wir uns mit Aristoteles ihre eifrige und ernste Beschäftigung mit Mathematik zu denken. »Sie beschäftigten sich zuerst mit der Mathematik, förderten sie, und, in ihr auferzogen, hielten sie die mathematischen Prinzipien (archas) für die Prinzipien alles Seienden... Und in den Zahlen die Eigenschaften und Gründe der Harmonie erblickend, da ihnen das andere seiner ganzen Natur nach den Zahlen nachgebildet erschien, die Zahlen aber als das Erste in der ganzen Natur, so faßten sie die Elemente der Zahlen als die Elemente aller Dinge auf und das ganze Weltall als Harmonie und Zahl« (Aristot. a. a. O.). In dem Studium der Mathematik, vor allem des arithmetischen Teiles der, selben, waren sie der unbedingten Gewißheit inne geworden, die dieser Wissenschaft eigen ist. »Nichts von Lug nimmt die Natur der Zahl, die Harmonie besitzt, in sich auf,« sagt Philolaos, denn »Lug ist der Natur unversöhnlicher Feind, die Wahrheit aber eigen und angeboren dem Geschlechte der Zahl« »Ohne sie läßt sich nichts erfassen noch erkennen.« Eine glänzende Bestätigung dieser mathematischen Gesetzlichkeit ergab sich ihnen bei ihren musikalischen und astronomischen Studien. So meinten sie denn, erfüllt von der neuen Entdeckung, die ganze Natur, ja das geistige Leben müsse sich, wie ein Rechenexempel, in Zahlen begreifen lassen.
b) Durchführung des Prinzips. So leiteten sie aus dem Gegensatz der geraden und ungeraden Zahl einen solchen des Unbegrenzten und Begrenzenden ab. Letzteres Prinzip stellen die Ungeraden dar, da sie der Zweiteilung eine Grenze setzen. Dieser Gegensatz des Begrenzenden und Unbegrenzten nun gehe, so Spannen sie allmählich ihre Lehre weiter aus, durch die ganze Natur hindurch. Denn »kenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und belehrend über jegliches Zweifelhafte und Unbekannte. Denn niemandem wäre das Geringste von den Dingen weder an sich noch in ihren Verhältnissen zueinander offenbar, wenn nicht Zahl wäre und ihre Wesenheit. So aber macht sie, der Seele es anpassend, alles der Wahrnehmung erkennbar... scheidend jegliche Verhältnisse der Dinge, der unbegrenzten wie der begrenzenden5.« Als Mittelglied zwischen der Zahl und der Natur galt ihnen das Symbol der Geometrie, das Winkelmaß (der Gnomon). - Aber nicht bloß in der Natur, auch auf allen menschlichen Gebieten, namentlich dem künstlerischen, waltet die Zahl. »So kannst du denn nicht bloß in den dämonischen und göttlichen Dingen, sondern auch in allen menschlichen Werken und Worten die Natur der Zahl und ihre Kraft überall walten sehen, sowie auch in allen technischen Künsten und in der Musik.« Eine Tafel von 10 Gegensätzen, die von einigen (wahrscheinlich Jüngeren) Pythagoreern aufgestellt wurde, gibt einen Begriff davon, wie man sich die Parallelen zu jenem Urgegensatz dachte, wobei das Erstgenannte jedesmal als das Begrenzende, Bestimmende, mithin Vollkommenere galt.
1. Grenze - Unbegrenztes.
2. Ungerades - Gerades (von Zahlen).
3. Eines - Vielheit.
4. Rechtes - Linkes.
5. Männliches - Weibliches.
6. Ruhendes - Bewegtes.
7. Geradliniges - Krummes.
8. Licht - Finsternis.
9. Gutes - Böses.
10. Quadrat - Rechtecke6
Aus solchen Gegensätzen besteht die Welt. Aber wie in der erzeugenden Eins, der ungerad-geraden Urzahl, die Gegensätze zusammenfließen, so sind auch die Gegensätze des Weltalls verbunden zu einer »Ordnungü; die Bezeichnung Kosmos haben anscheinend die Pythagoreer zuerst dem All verliehen. Ihr Band bildet die Harmonie, zugleich der physikalische Ausdruck der Gesetzmäßigkeit.
c) Bei aller Phantastik haben sich die Pythagoreer doch, soweit sich aus den vielfach unsicheren und unvollständigen Nachrichten entnehmen läßt, manches wissenschaftliche Verdienst erworben. Sie haben u. a. die Quadratverhältnisse der Zahlen, wie 32 + 42 = 52 aufgestellt und sind wahrscheinlich auch von solchen arithmetischen Gesichtspunkten aus zu geometrischen Lehrsätzen wie dem bekannten, der den Namen ihres Meisters trägt, gekommen. Auch auf den Begriff des Leeren, der erst in der Atomistik (§ 9) zu rechter Entfaltung kommt, haben sie bereits aufmerksam gemacht und ihn auf die Intervalle zwischen den Tönen und die Zwischenzahlen zwischen den Quadratzahlen angewandt. Ferner haben sie die mathematische Grundlegung der musikalischen Harmonie geschaffen, indem sie die Zahlenverhältnisse der Saitenlänge, aus denen Tonhöhe und Wohlklang hervorgehen, genau bestimmten und bereits Klanggeschlechter und Tonarten unterschieden. Und drittens waren sie in der Astronomie ihrer Zeit voraus. Sie haben bereits gelehrt, dass die Erde und die anderen Gestirne leuchtende Kugeln seien, die in zahlenmäßig bestimmten Abständen ihren kreisförmigen Reigen um das heilige Zentralfeuer, die »Burg des Zeus«, den »Herd des Alls«, aufführten. Ja, spätere Pythagoreer, wie die Syrakusaner Hiketas und Ekphantos (im 4. Jahrhundert v. Chr.), haben schon die Drehung der Erde um ihre eigene Achse gelehrt.
d) Freilich lief manches Naive und Gekünstelte bei diesen wissenschaftlichen Entdeckungen mit unter, da sie dabei, um Aristoteles' Worte zu gebrauchen, »nicht im Hinblick auf die Tatsachen nach Erklärungen und Theorien suchten, sondern im Hinblick auf gewisse Theorien und Lieblingsmeinungen an den Tatsachen zerrten und sich (man möchte sagen) als Mitordner des Weltalls aufspielten« Zur Vervollständigung der heiligen Zehnzahl z.B. wurde zu Erde, Mond, Sonne, den fünf Planeten und dem Fixsternhimmel als zehnte Kugel (Sphäre) eine »Gegenerde« erdichtet. Die Abstände der Gestirne wurden nach den Tonintervallen der Musik berechnet und so, da alles in rascher Umdrehung Befindliche tönt, eine himmlische Sphärenharmonie zustande gebracht: kindliche mit geistvollen und hochpoetischen Vorstellungen gemischt. Wie öfters mit nüchternstem Scharfsinn phantastische Mystik sich verbindet (Beispiele aus älterer und neuerer Zeit: die Araber, Keppler, Fechner, Zöllner, von Bruno und A. Comte zu schweigen), so begegnen wir auch bei den Pythagoreern den sonderbarsten Phantasmen. Aus der Zahlenspekulation wird häufig die unfruchtbarste Zahlensymbolik, die willkürlichste Zahlenspielerei. Die Sieben, noch mehr die Zehn (als Summe der Grundzahlen 1 + 2 + 3 + 4) galten als heilige Zahlen, bei denen geschworen wurde. Noch hören läßt es sich, wenn 1 den Punkt, 2 die Linie, 3 das Dreieck, 4 die Pyramide bedeuten soll. Sehr gekünstelt aber klingt es, wenn 4 zugleich (als Gleiches und Gleiches) die Gerechtigkeit, 5 die Hochzeit (weil = 3 + 2, Verbindung der ersten männlichen mit der ersten weiblichen Zahl), 6 die Seele, 7 den Verstand, die Gesundheit oder das Licht, 8 Liebe und Klugheit symbolisieren soll u.a.m.
e) In der Psychologie haben Pythagoras' Anhänger wenig geleistet. Ihre Lokalisierung der seelischen Funktionen - des Verstandes im Kopf, der Seele im Herzen, des Wachstums im Nabel, der Fortpflanzung in den Geschlechtsteilen - ist doch ziemlich primitiv7. Nach Aristoteles hätten sie die Sonnenstäubchen oder auch, was diese bewegt, für Seelen gehalten. Ihr Seelenwanderungsglaube hängt mit ihren philosophischen Grundsätzen nicht zusammen. Er hat sich, wie ihre Lehre von der einstigen Wiederkehr aller Wesen und Vorgänge überhaupt (Nietzsche!), schon früh mit dem orphischen Dionysoskult zu einer tiefsinnig- mystischen Geheimlehre verflochten, die weiter zu verfolgen nicht Absicht einer Geschichte der philosophischen Wissenschaft sein kann (vgl. darüber das schöne Kapitel »Der orphisch-pythagoreische Seelenglaube« in Th. Gomperz, Griechische Denker I, 100-123). Ebenso hat ihre religiös-ethische Lehre, deren sittlich-idealen und politisch-sozialen Charakter wir oben kennen gelernt haben, und die sich in mannigfachen praktischen Lebensregeln und symbolischen Sinnsprüchen fortpflanzte (eine Sammlung solcher sittlichen Vorschriften enthält u. a. das frühestens aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammende »goldene Gedicht«), bei ihnen selbst noch keine wissenschaftliche Begründung gefunden.
Auch von der Frage nach der Gewißheit der menschlichen Erkenntnis zeigen sich in der Gedankenwelt der Pythagoreer keine oder doch nur sehr schwache Spuren. Ihr Hauptverdienst besteht in ihrer mathematischen Forschung.