§ 7. Empedokles.
1. Leben und Schriften. Mit Empedokles treten wir auf den Boden der Insel Sizilien, und zwar auf dorisches Gebiet. Er war um 490 in der damals in vollster Blüte stehenden reichen Handelsstadt Akragas (Agrigent) geboren. Obwohl aus vornehmer Familie, schloß er sich doch den Freiheitsbestrebungen der Volkspartei an und half ihr zum Siege. Nicht bloß als Philosoph, sondern auch als Redner, Dichter, Ingenieur, Arzt und Weihepriester war er hochberühmt. Aristoteles preist ihn als Begründer der Rhetorik und stellt ihn an Pracht des dichterischen Ausdrucks Homer gleich, ähnlich später Lukrez. Magische Kräfte, wunderbare Heilungen, allerlei Wetterkünste, ja sogar Totenerweckungen schrieb ihm nicht bloß das Volk, sondern auch er sich selbst zu. Über seinen Tod gingen wunderbare Sagen um; nach der verbreitetsten derselben soll er sich freiwillig in den Krater des Ätna gestürzt haben. Wahrscheinlich, aber starb er um 430, nachdem er, der lange Zeit Vergötterte, doch schließlich die Volksgunst verloren, als Verbannter im Peloponnes. Außer dem, sozusagen hergebrachten, Lehrgedicht Peri physeôs verfaßte er noch ein zweites Werk religiös-mystischen Inhalts: Katharmoi (Sühnungen). Von beiden zusammen sind etwa 450 schwungvolle und bilderreiche Verse erhalten.
2. Naturphilosophie. Die Philosophie des Empedokles kann man als eine Verbindung der eleatischen Seinslehre mit dem heraklitischen Werden auffassen. Mit den Eleaten leugnet er, dass Etwas aus Nichts entstehen oder in Nichts vergehen kann; mit Heraklit hat er das Entwicklungsprinzip gemein. Den ionischen Physiologen gleicht er darin, dass sein Interesse mehr den chemischen, biologischen, anthropologischen Fragen als den mathematischen und dialektischen Problemen zugewandt ist; mit den Pythagoreern endlich hat er gewisse religiös-mystische Stimmungen und Vorstellungen (s. S 48) gemein. Nicht Entstehen und Vergehen, lehrt unser Sizilier, wohl aber Mischung und Trennung (»Entmischung«) des in seiner Gesamtmenge unveränderten Stoffes gibt es, bewirkt von zwei Kräften, die von jeher waren und ewig sein werden: Liebe und Haß (Zwist). Wir stehen bei ihm mitten in chemischen Vorstellungen. Aus den zwei Elementen der parmenideischen Lehre vom Schein sind bei Empedokles vier unveränderliche, aber teilbare »Wurzeln aller Dinge« geworden, indem zu dem Wasser des Thales, der Luft des Anaximenes, dem Feuer Heraklits als viertes die Erde hinzukommt; also die bekannten, durch Aristoteles dem Mittelalter überlieferten »vier Elemente ü: Feuer, Wasser, Luft und Erde, die bei ihm allerdings zuweilen noch in mythischer Personifizierung (Zeus, Nestis, Aidoneus, Here) erscheinen. Im Anfange aller Dinge ruhten alle diese Stoffe, von dem einigenden Band der »Liebe« zusammengehalten, ungesondert und unvermischt nebeneinander, in der Gestalt einer in sich geschlossenen Kugel (sphairos, wie bei Parmenides). Allmählich aber fand der »Haß« Eingang, und mit ihm kam die Trennung, die zur Bildung der Welt und der Einzelwesen führte und schließlich zur Alleinherrschaft gelangte, damit den Untergang der Lebewesen bewirkend, bis schließlich die Liebe wieder Macht gewann und das Getrennte wieder vereinte, das sie einst zum Anfangszustand der allumfassenden Kugel, des »allerseligsten Gottes«, zurückführen wird8; worauf dann in gleicher Weise neue Weltperioden, sich stetig ablösend, einander folgen werden.
Die Entwicklung des organischen Lebens, auf die das Hauptinteresse unseres Philosophen gerichtet ist, erfolgt also in der Periode des Kampfes beider Kräfte, durch unaufhörliche Mischung und Entmischung der vier Grundstoffe. Und zwar bewirkt der quantitative Unterschied der Zusammensetzung auch einen qualitativen Unterschied in den Sinneseigenschaften, ein »anderes Antlitz« des Zusammengesetzten. Von den organischen Wesen keimten zuerst die empfindungsbegabten Pflanzen aus der Erde hervor. Von den Tieren entstanden zunächst einzelne Gliedmaßen (Köpfe, Arme, Augen), die durch ihre anfangs zufälligen Vereinigungen Anlaß zu wunderbaren Mißbildungen gaben, bis sie sich schließlich, durch zahlenmäßige Mischungsverhältnisse, zu zweckmäßigen und lebensfähigen Organismen entwickelten. Denn Verwandtes und Gleiches zieht einander an, Feindliches bleibt sich fern. So haben wir hier zum erstenmal eine Analogie unserer chemischen »Wahlverwandtschaften«, zugleich mit den Urkeimen einer Selektionstheorie. Den Mischungsvorgang im einzelnen denkt Empedokles sich so, dass kleinste Teile des einen Stoffes bezw. Körpers mit denen des anderen sich mengen, indem sie als Ausflüsse (aporrhoai) des einen in die Spalten oder Poren (poroi) des anderen eindringen.
3. Psychologisches und Erkenntnistheoretisches. Von diesem Grundsatze machte nun Empedokles Anwendung auch auf die Sinneswahrnehmungen. Auch zu ihnen sind zwei verschiedene Dinge nötig: 1. die Teilchen der Objekte und 2. die der aufnehmenden Sinneswerkzeuge (was er besonders für die Gesichtswahrnehmung ausführte), so dass wir hier zum erstenmal - Gomperz I, S. 189 allerdings sieht den Pythagoreer Alkmaion von Kroton (§ 3) als Vorgänger an -, wenn auch in noch so unreifer Form, die Anerkennung eines subjektiven Beitrags zum Zustandekommen der Wahrnehmung finden. Damit dieselbe eintrete, müssen auch hier beide Teile zueinander passen, von gleicher Art sein: »Mit der Erde erkennen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser« usw. Ganz materialistisch klingt der Satz: »Je nach vorhandenem Stoffe wächst dem Menschen die Einsicht«, wie ihm denn auch von der Mischung des Blutes das Denken abhängt: »Das Herzblut ist Gedanke« (Anfang der Lehre, von den Temperamenten). Und doch ist dieser Materialismus wieder spiritualistisch (wie übrigens auch der moderne »Monismus« Haeckels); denn alle Materie ist in seinen Augen, wie in denen des Thales, Heraklit und Parmenides, beseelt, »alles besitzt Denkkraft« Berührung des Ähnlichen erweckt zugleich die Empfindung der Lust, Berührung des Entgegengesetzten Hemmung des Lebensgefühls, also Unlust. Übrigens sollen wir der Sinnesempfindung nur so weit trauen, als ihr enger Bezirk reicht. Das wahre Wissen ist nur der Denkkraft erreichbar. Die vollkommene Erkenntnis freilich kommt allein der Gottheit zu.
4. Seelenwanderungslehre. So tritt zwar das rein philosophische Moment in der Gestalt des Empedokles etwas zurück, dagegen hat er auf den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaft, wozu auch das astronomische, meteorologische und morphologische9 gehört, hochbedeutsame Gedankenkeime von reicher wissenschaftlicher Fruchtbarkeit für die Folgezeit, gepflanzt. In keinem erkennbaren Zusammenhange mit dieser seiner Naturphilosophie und Physiopsychologie steht seine offenbar von den Pythagoreern und Orphikern übernommene, mystisch-religiöse Lehre von der Seelenwanderung. Die Seelen, aus ihrer himmlischen Heimat verstoßen, sind dazu verurteilt, in dem irdischen Jammertal (dem »freudlosen Orte«) in den mannigfachsten Gestalten zur Buße ihrer Sünden umherzuirren; Empedokles selbst will bereits einmal Mädchen, Vogel, Fisch und - Busch gewesen sein! Nur in stufenweisen, langen Läuterungsperioden (mit der sittlichen Vervollkommnung gehen äußere Zeremonien: Weihungen, Besprengungen, Reinigungen, Vegetariertum u. ä. Hand in Hand) geht es langsam wieder empor, bis die höchste menschliche Stufe (Seher, Hymnendichter, Ärzte, Fürsten!) erreicht ist, von wo die endliche Rückkehr in die Urheimat möglich ist. Übrigens treten bei Empedokles auch Zeichen einer reineren Gottesauffassung, im Sinne des Xenophanes, hervor: nicht menschenähnlich sei die Gottheit zu denken, sondern als »ein heiliger und unaussprechlicher Geist, der mit schnellen Gedanken den ganzen Weltenbau durchfliegt« (Fragm. 134 bei Diels).
Seine chemische Naturauffassung wird noch folgerichtiger entwickelt von dem gleichzeitig lebenden Anaxagoras.