1. Thales


Noch halb im Dunkel der Sage schwebt die Gestalt dieses »Ahnherrn« der Philosophie, wie ihn Aristoteles nennt. Nur weniges Sichere ist uns über Leben und Lehre des außerordentlichen Mannes überliefert. Ein Zeitgenosse von Krösus und Solon, lebte er zwischen 624 und 545. Aus einer vornehmen, ihren Ursprung auf Kadmus zurückleitenden milesischen Familie stammend, erwarb er sich auch politische Verdienste um seine Vaterstadt. Seine Kenntnisse in der Geometrie, Astronomie und Naturwissenschaft überhaupt, die er auf Handelsreisen nach Phönizien und Ägypten erwarb oder doch vermehrte, werden von den Alten gerühmt. So soll er den ägyptischen Priestern ein Mittel zur Messung ihrer Pyramiden angegeben, einen Distanzmesser konstruiert, den Himmel als Hohlkugel erkannt, vor allem aber die Sonnenfinsternis vom Mai 585 vorausgesagt haben; wahrscheinlich war er auch in der Wasserbautechnik erfahren (Diels). Jedenfalls liegt der Zusammenhang der Philosophie mit den positiven Wissenschaften bei ihm klar zutage.

Was ihn aber zum ersten Philosophen stempelt, ist seine nicht mehr mythologische, sondern wissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung. Aristoteles (Metaphysik I, 3) bezeichnet ihn ausdrücklich als den Begründer derjenigen Philosophie, welche allein die Materie als den Urgrund (archê) der Dinge aufstellte. Eine solche Ur-Sache fand Thales im Wasser: sei es, dass die alte Theogonie mit ihrem Urvater Okeanos oder (was wahrscheinlicher) das Lebenselement seiner Heimat ihm diese Wahl nahe legte; wir kennen seine Begründung nicht mehr. Selbst Aristoteles stellt, da schon zu seiner Zeit nicht mehr und vielleicht überhaupt nie etwas Schriftliches von Thales vorhanden war, nur Vermutungen darüber auf: weil die Nahrung und der Same von Pflanzen und Tieren feucht seien, die Lebenswärme sich somit aus dem Feuchten entwickle; wozu wir wohl auch die unendliche Wandelbarbarkeit des flüssigen Elementes fügen dürfen.

Wenn Thales erklärte: der Kosmos sei »voll Dämonen«, so wollte er mit diesem der polytheistischen Anschauungsweise seines Volkes entnommenen Ausdruck wohl keine außerhalb des Stoffes stehende, ihn bewegende göttliche Ursache, sondern nur die Belebung oder Beseelung des Stoffes selbst bezeichnen, des Magnets z. B., wenn er das Eisen anziehe. Die Kraft liegt im Stoff.

Dieser Hylozoismus (Stoffbelebung) - oder Hylopsychismus (Stoffbeseelung), wie man ihn neuerdings genannt hat - scheint allerdings noch ziemlich roh, stellt aber trotzdem den gewaltigen, weil grundsätzlichen, Fortschritt von der Mythologie zur Naturwissenschaft dar. Einen weiteren Fortschritt vollzog dann sein. Landsmann Anaximander.


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