c. Partikularisation der poetischen Anschauung


So hätten wir denn jetzt im allgemeinsten sowohl den Inhalt des Poetischen angegeben als auch die poetische Form von der prosaischen abgeschieden. Der dritte Punkt endlich, dessen wir noch erwähnen müssen, betrifft die Partikularisation, zu welcher die Poesie mehr noch als die übrigen Künste fortgeht, die eine weniger reichhaltige Entwicklung haben. Die Architektur sehen wir zwar gleichfalls bei den verschiedensten Völkern und in dem ganzen Verlauf der Jahrhunderte erstehen, doch schon die Skulptur erreicht ihren höchsten Gipfelpunkt in der alten Welt durch die Griechen und Römer, wie die Malerei und Musik in der neueren Zeit durch die christlichen Völker. Die Poesie aber feiert bei allen Nationen und in allen Zeiten fast, welche überhaupt in der Kunst produktiv sind, Epochen des Glanzes und der Blüte. Denn sie umfaßt den gesamten Menschengeist, und die Menschheit ist vielfach partikularisiert.

α) Da nun die Poesie nicht das Allgemeine in wissenschaftlicher Abstraktion zu ihrem Gegenstande hat, sondern das individualisierte Vernünftige zur Darstellung bringt, so bedarf sie durchweg der Bestimmtheit des Nationalcharakters, aus dem sie hervorgeht und dessen Gehalt und Weise der Anschauung auch ihren Inhalt und ihre Darstellungsart ausmacht, und geht deshalb zu einer Fülle der Besonderung und Eigentümlichkeit fort. Morgenländische, italienische, spanische, englische, römische, griechische, deutsche Poesie, alle sind durchaus in Geist, Empfindung, Weltanschauung, Ausdruck usf. verschieden.

Die gleich mannigfaltige Unterschiedenheit macht sich nun auch rücksichtlich der Zeitepochen, in welchen gedichtet wird, geltend. Was z. B. die deutsche Poesie jetzt ist, hat sie im Mittelalter oder zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges nicht sein können. Die Bestimmungen, die jetzt unser höchstes Interesse erregen, gehören der ganzen gegenwärtigen Zeitentwicklung an, und so hat jede Zeit ihre weitere oder beschränktere, höhere und freiere oder herabgestimmtere Empfindungsweise, überhaupt ihre besondere Weltanschauung, welche sich gerade durch die Poesie, insofern das Wort den ganzen Menschengeist auszusprechen imstande ist, am klarsten und vollständigsten zum kunstgemäßen Bewußtsein bringt.

β) Unter diesen Nationalcharakteren, Zeitgesinnungen und Weltanschauungen sind dann wieder die einen poetischer als die anderen. So ist z. B. die morgenländische Form des Bewußtseins im ganzen poetischer als die abendländische, Griechenland ausgenommen. Das Unzersplitterte, Feste, Eine, Substantielle bleibt im Orient immer die Hauptsache, und solch eine Anschauung ist die von Hause aus gediegenste, wenn sie auch nicht bis zur Freiheit des Ideals hindurchdringt. Das Abendland dagegen, besonders die neuere Zeit, geht von der unendlichen Zerstreuung und Partikularisation des Unendlichen aus, wodurch bei der Punktualisierung aller Dinge auch das Endliche für die Vorstellung Selbständigkeit erhält und doch wieder zur Relativität muß umgebeugt werden, während für die Orientalen nichts eigentlich selbständig bleibt, sondern alles nur als das Akzidenteile erscheint, das in dem Einen und Absoluten, zu welchem es zurückgeführt ist, seine stete Konzentration und letzte Erledigung findet.

γ) Durch diese Mannigfaltigkeit der Volksunterschiede und den Entwicklungsgang im Verlauf der Jahrhunderte zieht sich nun aber als das Gemeinsame und deshalb auch anderen Nationen und Zeitgesinnungen Verständliche und Genießbare einerseits das Allgemeinmenschliche hindurch, andererseits das Künstlerische. In dieser doppelten Beziehung besonders ist die griechische Poesie immer von neuem wieder von den verschiedensten Nationen bewundert und nachgebildet worden, da in ihr das rein Menschliche dem Inhalte wie der künstlerischen Form nach zur schönsten Entfaltung gekommen ist. Doch selbst das Indische z. B., allem Abstände der Weltanschauung und Darstellungsweise zum Trotz, ist uns nicht gänzlich fremd, und wir können es als einen Hauptvorzug der jetzigen Zeit rühmen, daß in ihr sich der Sinn für die ganze Reichhaltigkeit der Kunst und des menschlichen Geistes überhaupt mehr und mehr aufzuschließen begonnen hat.

Sollen wir nun bei diesem Triebe zur Individualisierung, welchem die Poesie den angegebenen Seiten nach durchgängig folgt, hier von der Dichtkunst im allgemeinen handeln, so bleibt dies Allgemeine, das als solches könnte festgestellt werden, sehr abstrakt und schal, und wir müssen deshalb, wenn wir von eigentlicher Poesie sprechen wollen, die Gestaltungen des vorstellenden Geistes immer in nationaler und temporärer Eigentümlichkeit fassen und selbst die dichtende subjektive Individualität nicht außer acht lassen. - Dies sind die Gesichtspunkte, welche ich in betreff der poetischen Auffassung überhaupt vorausschicken wollte.


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Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2004 
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