Karl von Hertefeld in Paris


Es läßt sich annehmen, daß Karl von Hertefelds Eifer an diesem Spotte nicht erlahmte, die Zeit im ganzen aber war der wissenschaftlichen Beschäftigung ungünstig, selbst widerstrebend, und als in den ersten Tagen des Jahres 1813 die Yorksche Kapitulation in Berlin bekannt wurde, war es mit dem Studium auf lange hin vorbei. Nur ein Gefühl beherrschte die Gemüter, insonderheit der Jugend, und Karl von Hertefeld wäre mit unter den ersten gewesen, die damals die Waffen nahmen und auszogen, wenn nicht seinem eigenen Enthusiasmus ein absolut unenthusiastischer Vater mit sehr abweichenden Ansichten und Wünschen entgegengestanden hätte. So bracht' er seiner Kinderliebe das denkbar schwerste Opfer und blieb, ohne sich durch Mißdeutungen, denen er kaum entgehen konnte, beirren oder umstimmen zu lassen.

Als aber ein halbes Jahr später die Leipziger Schlacht geschlagen und der Marsch auf Paris eine beschlossene Sache war, wurde ihm der Zwang unerträglich, und er brach auf, um wenigstens ein Zeuge der letzten entscheidenden Ereignisse zu sein. Am 5. März 1814 war er in Leipzig, am 9. in Frankfurt, am 16. in Chaumont, und sah sich, am selben Abend noch, in die beinah fluchtartige Rückzugsbewegung des großen Hauptquartiers hineingerissen. Endlich wieder zur Ruhe gekommen, schrieb er, anderthalb Wochen später, von Dijon aus. »Ich wollte zur Armee, wie Du weißt, und muß statt dessen im Rücken derselben umherziehen. Daß es im Gefolge des Hauptquartiers geschieht, bessert wenig. In diesem Augenblick sind wir, abgedrängt und gefährdet, ohne jede Nachricht von der Armee. Morgen aber will ich mich an Graf Lottum wenden, um aus seinem Munde zu hören, wie die Dinge stehen. Inzwischen gefällt mir Frankreich recht gut, wenigstens überall da, wo man noch etwas zu leben vorfindet. Die Leute sind höflich und freundlich und ich werde vortrefflich mit ihnen fertig. Zugleich erhalte ich Komplimente über Komplimente à cause de ma honnêteté. Ich bin fest überzeugt, daß die gelegentlich feindliche Haltung der Einwohner nur von dem zügellosen Betragen der alliierten Armeen herrührt. Die Verheerungen übersteigen alle Vorstellungen. Von Chaumont bis Troyes habe ich in den Dörfern keine Einwohner und von Nancy bis drei Lieues von Chatillon kein Federvieh gesehen. Und wem schaden wir durch solch Gebaren am meisten? Uns selbst. Die nachrückenden Truppen finden nichts und müssen, nach starken Märschen, auch noch hungern. Eben hör' ich, das Hauptquartier werde sich nach Lyon begeben. Ich glaub' es jedoch nicht, daß wir bestimmt sind, so weit nach Süden hin auszubiegen. Geschäh' es doch, so bekäme ich die schönsten Städte Frankreichs zu sehen und könnte vielleicht immer noch sagen ›die Kampagne mitgemacht zu haben‹.«

So Karl von Hertefeld am 27. März. Vier Tage später hatten sich die Dinge sehr geändert, und die Nachricht von der entscheidenden Niederlage Napoleons bei Arcis sur Aube, wie sie dem großen Hauptquartier bekannt geworden war, war auch zur Kenntnis unseres Briefschreibers gelangt. Er meldet erst das Tatsächliche dem Vater und fährt dann fort: »Es kommt dies alles vom Tische des Staatskanzlers, muß also wohl richtig sein. Übrigens wissen wir erst jetzt, daß wir in Bar sur Aube nahe daran gewesen sind, inklusive Hauptquartier und Kaiser von Österreich, aufgehoben zu werden. Am Morgen um 4 Uhr brachen wir von Bar sur Aube auf, und am Abend war – Napoleon in der Stadt. Der ganze Landstrich, in dem wir uns hier befinden, ist nicht annähernd so verwüstet, wie Lothringen und die Champagne, vielleicht weil überhaupt und vor allem keine Russen hierher gekommen sind. Die Einwohner sind äußerst zuvorkommend und das Hauptquartier hat keine Ursache zur Klage. Hier hab' ich auch zum ersten Male ein französisches Schauspiel gesehen. Es war ein bürgerliches Lustspiel und übertraf alle meine Erwartungen. Wie hölzerne Klötze kommen mir unsere deutschen Schauspieler dagegen vor. Gestern wurde eine dreiaktige Oper ›Virginie et Paulin‹ angekündigt. Da fand ich nun freilich, und zumal in den effektvollen Szenen, meine Leute sehr verändert. Es gab ein förmliches Heulen, Schreien und Herumfahren auf dem Theater, alle waren wie Besessene, und ich fürchtete ein paarmal, sie würden sich die Kleider vom Leibe reißen. Wenn ich nicht mehrere Schauspieler vom Tage vorher in ihnen wiedererkannt hätte, so würde ich nie geglaubt haben, daß diese Menschen in einem Genre so gut und in dem anderen so unsinnig sein könnten.«

Dieser zweite Brief aus Dijon ist vom 31. März.

Schon am Tage vorher hatten sich die Dinge vor Paris entschieden, und Karl von Hertefeld brach aus der burgundischen Hauptstadt (Dijon) auf, um sich, auf nächstem Wege, nach der Landeshauptstadt zu begeben. Am 5. oder 6. April traf er daselbst ein und schrieb von hier aus einige durch gute Beobachtung, bon sens und Humor ausgezeichnete Briefe, denen ich folgende Stellen entnehme.

 

Paris, 18. April 1814.

 

Ich habe nun die herrlichen Kunstwerke mit Muße angesehen und jedesmal, daß ich wieder hinkam, hab' ich etwas neues Herrliches entdeckt. Welcher Reichtum an Gemälden hier zusammen gehäuft ist, kannst Du daraus abnehmen, daß sich hier allein fünfundzwanzig Raphaels befinden. Alles ist nach Schulen geordnet, und wundert es mich nur, daß man die deutsche mit der niederländischen zusammen geworfen hat.

Und wie die Sammlungen, habe ich nun auch die berühmtesten Theater gesehen. Die große Oper ist herrlich, trotz des Gebrülls der Sänger bei Bravourarien. Ich sah Iphigénie en Aulide. Mir gefiel der Gesang anfänglich recht gut, als aber die Stelle kam, wo Achill und Agamemnon sich zanken, war es kaum zum Aushalten. Und doch erfolgte gerade jetzt ein Applaudissement, daß das Haus dröhnte. Hernach sah ich Orphée, der mir viel besser gefiel, weil nicht voll so stark geschrien wurde. Aber was soll ich vom Ballett sagen! Das reißt einen ganz hin; alles steht an seinem Platz und greift ineinander; jeder Figurant ist in seiner Art ein Künstler. Will man aber einen Körper sehen, der zum Äther wird, so ist es die Gardel. Beschreiben läßt sich ihr Tanz gar nicht. Man sieht weder Gliederverdrehungen, noch tours de force; alles ist Grazie, wenn sie über das Theater hinschwebt. Was aber am meisten zu verwundern ist, ist das, daß diese Frau schon zweiundvierzig Jahre zählt.

Im Théâtre français habe ich Semiramis gesehen. Die berühmte George spielte die Semiramis und Talma den Arsace. Talma hat mir sehr genügt, aber die George gar nicht. Es ist sonderbar mit der französischen Tragödie; man begreift anfänglich nicht, wie diese Deklamationsweise gefallen kann, und am Ende bringt sie doch einen schönen Effekt hervor. Bei dieser Gelegenheit muß ich noch etwas erwähnen, was mir in diesem Stücke sehr auffiel und vielleicht als Kommentar für die wahre Stimmung des französischen Volkes dienen kann. Talma hat nämlich als Arsace folgende Worte zu sprechen: »le ciel donne souvent des rois dans sa vengeance.« Bei dieser Sentenz erfolgte ein Beifall, daß das ganze Haus widerhallte. Und gewiß wurde nicht bloß deshalb applaudiert, weil Talma die Worte schön gesprochen hatte.

In der eigentlichen leichten Komödie sind die Franzosen unübertrefflich, und in den kleineren Vaudevilletheatern, wo dergleichen aufgeführt wird, muß man sich fast totlachen. Sinn ist in allen diesen Stücken herzlich wenig, aber darauf kommt es auch gar nicht an; wenn nur der Unsinn gut gespielt wird, so geht das Publikum vergnügt nach Haus. Und mir ist es ebenso gegangen. In Deutschland müßte man vor Langeweile umkommen, wenn einem so was vorgespielt würde.

Zum Schluß muß ich Dir noch schreiben, wie sich alle Theater beeifern, Gelegenheitsstücke vorzuführen, in denen ein vive le roi angebracht werden kann. Da nun aber die französische Geschichte ziemlich arm an edlen Königen ist, so fällt alles über Henri IV. her, der jetzt unter allen möglichen Formen, auf allen möglichen Bühnen herumwandeln muß. Da gibt es la partie de chasse de Henri IV., Henri et d'Aubigny, le souper de Henri IV. ou la dinde en pal, ja sogar le dessert de Henri IV. In allen diesen Stücken sind Lieder angebracht zum Lobe der Könige, der »souverains legitimes«, die dann möglichst beklatscht werden. Doch war kein Applaudissement so stark, wie bei den oben erwähnten Worten Talmas.

Von Bekannten hab' ich hier noch Dönhoff, Salpius und Serre, den Vater, gesprochen.

 

Paris, den 30. April 1814.

 

Die Bauten und Arbeiten, die Napoleon teils hat vornehmen lassen, teils vornehmen wollte, grenzen wirklich an das Riesenhafte. Auf dem Platz, wo die Bastille stand, sollte ein Elefant von Bronze, zwölfmal größer als ein natürlicher, zu stehen kommen. Bloß um das Modell arbeiten zu können, hat man ein turmähnliches Gebäude aufführen müssen. Dieser Elefant sollte über den projektierten Ourcq-Kanal gestellt werden, so daß die Schiffe unter ihm weggingen, bei welcher Aufstellung er zugleich als Prospekt der ebenfalls neu edierten rue impériale gedient haben würde. Die Herstellung dieser neuen Straße wurde, weil alte Häuser niedergerissen werden mußten, auf vierzehn Millionen Francs berechnet.

Ich gehe gern ins Theater, aber es wird einem fast zuwider, weil immer nur Gelegenheitsstücke gegeben werden, in denen man bei jeder passenden oder nicht passenden Strophe wütend applaudiert. Jedes der verschiedenen Theater hat sich, wie ich Dir schon schrieb, ein von Henri quatre handelndes Stück angeschafft, das nun jeden Abend zur Aufführung kommt. Die Stimmung des Volkes zeigt sich dabei in einem sehr grellen Lichte. Der Kaiser von Rußland glänzt vor allen anderen Fürsten und wird fast als der einzige angesehen, der etwas zu sagen habe. Dazu kommt noch, daß sein Name sich in Gedichten gut anbringen läßt, wohingegen Frédéric Guillaume und François in keinem Couplet recht reimen wollen, so sehr sich auch die Dichter abarbeiten, solche Reime zu finden.

 

Paris, den 8. Mai 1814.

 

Paris enthält jetzt so viele merkwürdige Männer, wie wohl nie zuvor. Außer den Monarchen ist fast die ganze englische Generalität hier, Lord Wellington an der Spitze. Ich habe diesen merkwürdigen Mann in der Oper gesehen. Schade war es, daß er in einer dunklen Loge saß und sich, um einiger englischen Damen willen, fast wie in einen Winkel gesetzt hatte, so daß ich mir seine Gesichtszüge nicht recht einprägen konnte. Nur soviel sah ich, daß ihm keines der mir in Berlin bekannt gewordenen Gemälde glich. Er ist hager und sein Gesicht länglich; außerdem aber schien mir etwas ganz unenglisch Anspruchsloses darin zu liegen, was ihn mir noch lieber machte.

Der Einzug Ludwigs XVIII. ist am vorigen Dienstag in Szene gegangen. Wegen der Kürze der Zeit hatte man nicht viel Anstalten zu seinem Empfange treffen können; auf dem Pont neuf indessen war die Statue Heinrichs IV. vorläufig in Holz aufgerichtet worden und von den Türmen wehten weiße Fahnen mit darin eingestickten Lilien. Das Tor von St. Denis, durch das er einzog, war mit Tapeten aus der Gobelin-Manufaktur behangen. Ich ging in den Faubourg und stellte mich auf ein zum Zuschauen erbautes Gerüst. Alsbald erschien der König. Er war fast mehr von Nationalgarden als von französischen Truppen begleitet, und weil der Zug, des Gedränges halber, oft stopfte, hatt' ich Gelegenheit, Seine Majestät mit aller Muße zu betrachten. Gerade vor unserem Gerüst mußt' er fast eine Viertelstunde halten, ehe der Weg durch das Tor offen war. Nach den Gemälden Ludwigs XVI. zu urteilen, hat er viel Ähnlichkeit mit seinem unglücklichen Bruder. Die Nationalgarden riefen vive le roi, die Truppen aber marschierten stumm vorüber. Besonders die Garden. Ein verbissener Ingrimm war in die Gesichter der alten Grenadiers eingezeichnet.

Vor einigen Tagen traf ich im Theater mit einem Herrn in einer Loge zusammen, den ich anfänglich für einen Deutschen oder Holländer hielt, bis ich durch ihn erfuhr, daß er Besitzungen in Anjou habe und jetzt als Deputierter hier sei. Weiterhin erzählte er mir, er habe seit drei Monaten weder Abgaben bezahlt, noch seien Rekruten eingezogen worden. Es habe sich nämlich in Anjou, Maine und der Vendée eine starke Partei organisiert, deren Mitglieder, mit der weißen Kokarde am Hut, das Land durchzögen und die Polizeibeamten, die die Steuern und Konskribierten einziehen wollten, einfach wegjagten. Es seien zwar zweitausend Gendarmes samt Kavallerie von der spanischen Armee heranbeordert und mit Herstellung der »Ordnung« beauftragt worden, einige Deputierte hätten aber dem Präfekten rundweg erklärt, daß er die Gendarmes wieder fortschicken müsse, widrigenfalls sie wahrscheinlich totgeschlagen würden. Und das sei denn auch befolgt worden. Inzwischen habe die königliche Sache gesiegt, und alles sei wieder ruhig.

 

Paris, den 14. Mai 1814.

 

Ich habe neuerdings Graf Eberhard Dankelmann hier kennen gelernt. Er will nach London und hat mich aufgefordert, mich ihm anzuschließen. In Voraussicht Deiner Zustimmung werd' ich es tun. Die Reise macht sich leicht; in drei Tagen bin ich dort und gedenke mich anderthalb Wochen daselbst aufzuhalten, in welcher Zeit sich schon einiges sehen läßt. Graf Dankelmann geht von London aus nach Gothenburg, und von Gothenburg auf seine Güter in Livland, ich aber gedenke das Paketboot zu benutzen, das von Harwich auf Amsterdam fährt und werde von dort aus einen Abstecher nach Diersforth zu Onkel Wylich machen.

 

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