Alt-Geltow


I do not set my life at a pin's fee;

By heaven, I'll make a ghost of him that hinders me:

I say, away!

Hamlet


Etwa tausend Schritt hinter Baumgartenbrück, und zwar landeinwärts, liegt Alt-Geltow.

Wenn es auch bezweifelt werden mag, daß die »alte Bomgarde«, die dem heutigen Baumgartenbrück den Namen gab, wenigstens soweit das Sprachliche in Betracht kommt, bis in die slawische Zeit hinauf zu verfolgen ist, so haben wir dagegen in Alt-Geltow ein unbestritten wendisches Dorf. Die ältesten Urkunden tun seiner bereits Erwähnung und es nimmt seinen Platz ein unter den sieben alten Wendendörfern der Insel Potsdam: Bornim, Bornstädt, Eiche, Golm, Grube, Nedlitz und Gelte. Diese letztere Schreibweise, ursprünglich Geliti, ist die richtigere. Geltow indes ist der übliche Name geworden.

Die Geschichte des Dorfes geht weit zurück; aber die schon erwähnten Urkunden, von denen die älteste aus dem Jahre 933 stammt, sind dürftigen Inhalts und lassen uns, von kleinen Streitigkeiten abgesehen, nur das eine erkennen, daß erst die Familie Hellings von Gelt, dann die Gröbens, dann die Hakes ihren Besitz hier hatten. 1660 gingen Dorf und Heide an den Großen Kurfürsten über und gehörten seitdem zu den vielen Besitzungen des kurfürstlichen, beziehungsweise königlichen Hauses in der Umgegend von Potsdam. 1842 wurde die Heide zur Erweiterung des Wildparks benutzt.

Geltow war immer arm; dieser Charakter verblieb ihm durch alle Zeiten hin, und die schlichten Wände seiner Kirche, deren wir eben ansichtig werden, mahnen nur zu deutlich daran, daß die Pfarre, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zweihundert Taler trug.

Wir schreiten zunächst über einen Grabacker hin, der seit zwanzig oder dreißig Jahren brach liegt und eben wieder anfängt, aufs neue bestellt zu werden. Zwischen den eingesunkenen Hügeln wachsen frische auf; diese stehen in Blumen, während wilde Gerste über die alten wächst.

Es ist spät Nachmittag; der Holunder blüht; kleine blaue Schmetterlinge fliegen um die Gräber; ein leises Bienensummen ist in der Luft; aber man sieht nicht, woher es kommt.

Die Kirchtür ist angelehnt; wir treten ein und halten Umschau in dem schlichten Raume: weiße Wände, eine mit Holz verschlagene Decke und hart an der Giebelwand eine ängstlich hohe Kanzel, zu der eine steile, gradlinige Seitenstiege führt.

Und doch das Ganze nicht ohne stillen Reiz. Krone neben Krone; gestickte Bänder, deren Farben halb oder auch ganz verblaßten; dazwischen Myrten- und Immortellenkränze im bunten Gemisch. Das Ganze ein getreues Abbild stillen dörflichen Lebens: er ward geboren, nahm ein Weib und starb.

Es ist jetzt Sitte geworden, die Kirchen dieses Schmuckes zu berauben. »Es sind Staubfänger«, so heißt es, »es stört die Sauberkeit«. Richtig vielleicht und doch grundfalsch. Man nimmt den Dorfkirchen oft das Beste damit, was sie haben, vielfach auch ihr – Letztes. Die buntbemalten Fenster, die großen Steinkruzifixe, die Grabsteine, die vor dem Altar lagen, die Schildereien, mit denen Liebe und Pietät die Wandpfeiler schmückte, – sie sind alle längst hinweggetan; »sie nahmen das Licht«, oder »sie waren zu katholisch«, oder »die Fruen und Kinner verfierten sich«. Nur die Braut- und Totenkronen blieben noch. Sollen nun auch diese hinaus? Soll alles fort, was diesen Stätten Poesie und Leben lieh? Was hat man denn dafür zu bieten? Diese Totenkronen, zur Erinnerung an Heimgegangene, waren namentlich dem aufs Saubere und Ordentliche gestellten Sinn Friedrich Wilhelms III. nicht recht. In den Dorfkirchen, wo er sonntags zum Gottesdienste erschien, duldete er sie nicht. Er gestattete aber Ausnahmen. Pastor Lehnert in Falkenrehde erzählt: Eine alte Kolonistenwitwe in meiner Gemeinde verlor ihren Enkel, den sie zu sich genommen und erzogen hatte, und der ihr ein und alles war. Sie ließ eine reich mit Bändern verzierte Totenkrone anfertigen und begehrte, solche neben ihrem Sitze in der Kirche aufhängen zu dürfen, »weil sie sonst keine Ruhe und keine Andacht mehr habe«. Pastor Lehnert gab nach. Der König, bei seinem nächsten Kirchenbesuche von Paretz aus, bemerkte die Krone und äußerte sich mißfällig; als ihm aber der Hergang mitgeteilt wurde, fügte er hinzu: »Will der Frau ihre Ruhe und Andacht nicht nehmen.« – Solche Fälle, wo »Ruhe und Andacht« eines treuen und liebevollen Herzens an einem derartigen, noch dazu höchst malerischen Gegenstande hängen, sind viel häufiger, als nüchterne Verordnungen Unbeteiligter voraussetzen mögen.

Die Alt-Geltower scheinen so empfunden zu haben und haben ihren besten Schmuck zu bewahren gewußt. Die Giebelwand, an der sich Kanzel und Kanzeltreppe befinden, ist ganz in Kronen und Kränze gekleidet, im ganzen zählte ich siebenzig, und dazwischen hängen jene bekannten, schwarz und weißen Tafeln, an deren Häkchen die Kriegsdenkmünzen aus der Gemeinde ihre letzte Stätte finden. Die eine Tafel erzählte von 1813; auf der andern las ich folgendes: »Aus diesem Kirchspiel starben im Befreiungskriege für ihre deutschen Brüder in Schleswig-Holstein:

F. W. Kupfer, gef. vor Düppel am 17. März 1864;

Carl Wilh. Lüdeke, gestorben an seinen Wunden im Lazarett zu Rinkenis am 22. März 1864.

Vergiß die treuen Toten nicht.«

Das Jahr 1866 schien ohne Opferforderung an Alt-Geltow vorübergegangen zu sein. Aber jetzt! Manch neuer Name wird sich zu den alten gesellen.

In der Kirche hatte sich ein Mann aus dem Dorfe, ich weiß nicht, ob Lehrer oder Küster zu uns gefunden. »Nun müssen Sie noch die Meusebachsche Begräbnisstätte sehen«, so sagte er. Wir horchten auf, da wir von einer solchen Begräbnisstätte nie gehört hatten, folgten dann aber unserem neu gewonnenen Führer, bis wir draußen an einen Vorsprung gelangten, eine Art Bastion, wo der Kirchhofshügel steil abfällt. Hier, an höchster Stelle, die einen Überblick über das Dorf und seine Gärten gestattet, bemerkten wir nunmehr einen eingefriedigten, mit Eschen und Zypressen umstellten Platz, dessen schlichtes, mit Convolvulus und wildem Wein umranktes Gitter drei Efeugräber einschloß. In ihnen ruhten Vater, Mutter, Sohn. Die letzten ihres Namens. Das Ganze wirkte durch seine große Einfachheit.

Der Vater, Karl Hartwig Gregor Freiherr von Meusebach, lange Zeit Präsident des Rheinischen Kassations- und Revisionshofes, war ein Kenner der deutschen Literatur, zugleich ein Sammler ihrer Schätze, wie kaum ein zweiter. Wir finden über ihn folgendes: »Seine bibliographischen Bestrebungen umfaßten das ganze Gebiet von Erfindung der Buchdruckerkunst bis auf die Gegenwart, doch so, daß er dem Volks- und geistlichen Liede, den Schriften Luthers, vor allen aber Fischarts, so wie den nach seiner Meinung zu sehr verachteten und vergessenen Schriftstellern des 17. Jahrhunderts einen gewissen Vorrang zugestand. Alle erheblich scheinenden Bücher, welche seine scharfsinnigen Untersuchungen ihn kennen gelehrt hatten, suchte er zu erwerben. So gedieh seine Bibliothek zu einer seltenen Vollständigkeit und zu einem fein gegliederten inneren Zusammenhange.«

Von 1819 an lebte er in Berlin, wenn ich nicht irre in einem der Häuser, die bei dem Neuen-Museums- Bau verschwunden sind. Hier besuchte ihn anfangs der zwanziger Jahre Hoffmann von Fallersleben, der über diesen Besuch in seinen »Aufzeichnungen und Erinnerungen« berichtet.

»Schon in Koblenz hatte ich viel gehört von einem Herrn von Meusebach, der von dort aus als Geheimer Rat an den Rheinischen Kassationshof in Berlin versetzt worden sei.

Er besitze, so hieß es, eine große Bibliothek, reich an altdeutschen Werken, sei ein großer Kenner und immer noch ein eifriger Sammler. Ich erfuhr bald seine Wohnung: er wohnte in dem Hause der Frau Friedländer hinter der kleinen Brücke, die über den Kupfergraben auf den Museumsplatz und die Neue Friedrichstraße zuführte. Ich ging eines Morgens zwischen neun und zehn Uhr hin, ließ mich anmelden, wurde aber abgewiesen. Ich wiederholte noch zweimal meinen Besuch; immer aber hieß es: ›der Herr Geheime Rat schläft noch.‹ Ich ließ mich nicht abschrecken und versuchte es zum vierten Male, aber erst um elf Uhr. Diesmal hatte ich sagen lassen, der Herr von Arnim habe mich ja schon angemeldet. Nach einiger Zeit kehrte der Bediente zurück: ich möchte eintreten.

Herr von Meusebach war in eifrigem Gespräch begriffen mit Frau von Savigny, begrüßte mich, ließ mich stehen und setzte sein Gespräch fort. Frau von Savigny war so gesprächig, daß sich gar kein Ende absehen ließ. Endlich nach einer Viertelstunde war der Born ihrer Beredsamkeit versiegt und sie empfahl sich.

Meusebach wendete sich nun an mich. Ich sprach einfach aus, was ich von ihm wünschte, nämlich seine Bücher zu sehen. Das gefiel ihm. Ehe er mir aber etwas zeigte, öffnete er die Tür zur Bibliothek und holte links aus der Ecke zwei gestopfte Pfeifen und bot mir die eine an. Als wir so recht damit im Zuge waren, schloß er eine Tapetentür auf; in diesem unbemerkten Wandschrank wurden die Lieblingsbücher und kostbarsten und seltensten aufbewahrt. Zuerst zeigte er mir das Luthersche Gesangbuch von 1545. ›Was sagen Sie dazu?‹ Ich freute mich, staunte, bewunderte. Es folgte nun eine ganze Reihe derartiger Bücher, die ich alle noch nie gesehen hatte. Die Bücherschau dauerte bereits über anderthalb Stunden, da trat Friedrich der Bediente ein: ›Herr Geheime Rat, es ist angerichtet.‹ Das störte uns nicht, wir fuhren in unserem angenehmen Geschäfte fort. Friedrich kam wieder: ›Herr Geheime Rat, das Essen steht schon längst auf dem Tische.‹ ›Gut. Nun kommen Sie mit.‹ Ich hatte früher nie Sauerkraut essen können, heute schmeckte es mir vortrefflich, sowie der leichte Moselwein (einen andern führte der Herr Geheime Rat nicht). Frau von Meusebach lachte, daß ich es heute so schön getroffen hätte. Die Unterhaltung war sehr heiter. Ich erzählte allerlei hübsche Geschichten so unbefangen, als ob ich in einem Kreise alter lieber Freunde mich befände.

Nach Tische begaben wir uns wieder an unsern Wandschrank. Als der Kaffee kam, holte ich mir selbst eine frisch gestopfte Pfeife, – Friedrich mußte immer an die dreißig wohlgereinigt und gestopft im Gange erhalten. Meusebach ergötzte sich sehr, daß ich schon so gut Bescheid wußte.

Wir begannen von neuem die Bücherschau. Es wurde Licht angezündet, wir setzten uns. Jetzt kamen die Liederbücher und die Fischartiana an die Reihe. Meine Freude steigerte sich. Der Tee wurde gebracht. Frau von Meusebach kam mit ihren Kindern. Das störte uns weiter nicht. Wir unterhielten uns und besahen Bücher; Tee und Essen war Nebensache. Die Kinder gingen wieder fort, Frau von Meusebach folgte bald nach, wir waren wieder allein. Eine frische Pfeife wurde angebrannt. Es war bereits spät. Ich wollte nach Haus, mußte aber bleiben. Es wurde zwölf, es wurde eins. Immer noch kein Ende. Da kam Meusebach auf meine ›Liederhandschrift‹, die ich das Glück gehabt hatte auf einem Trödel in Bonn zu entdecken, zu sprechen und meinte, es wäre hübsch, wenn er das Buch mal sehen könnte. Das ›Sehen‹ verstand ich recht gut und beschloß bei mir, es ihm zu Weihnachten zu verehren. Endlich um halb zwei schieden wir und waren nach fünfzehntehalb Stunden erster Bekanntschaft beide recht frisch und vergnügt. Ich mußte versprechen, meinen Besuch bald zu wiederholen, und es fiel mir denn auch nicht im geringsten schwer, recht bald Wort zu halten.«

Gegen Ende seines Lebens hin empfand Meusebach immer tiefer das Bedürfnis, ungestört seinen Studien leben zu können. Er gab seine hohe richterliche Stellung auf (1842) und zog sich nun nach Alt- Geltow zurück. Mit ihm ging seine Bibliothek. Aber nicht lange mehr hatte er sich dieser Muße zu freuen. Er starb am 22. August 1847. Seine Bibliothek, ein Schatz, wurde 1849 seitens der preußischen Regierung erstanden und der Berliner Bibliothek einverleibt.

Hatte der Vater der stillen Welt seiner Bücher angehört, so gehörte der Sohn (seiner äußeren Stellung nach ebenfalls Jurist) um so voller der Außenwelt, dem Markt des Lebens an. Er war in eminentem Sinne ein »Lebemann«, geistreich, schlagfertig, eine feine und spitze Zunge zugleich. Die Märzereignisse zogen ihn in die Politik; sein berühmter Ausspruch: »ich rieche Leichen«, womit er in den Oktobertagen desselben Jahres auf die Tribüne trat, ist unvergessen geblieben und ein geflügeltes Wort geworden. Die fünfziger Jahre sahen ihn im diplomatischen Dienst, erst als Generalkonsul in den Donaufürstentümern, dann als Gesandten in Brasilien. Seine Wunderlichkeiten wuchsen. 1854 in Giurgewo war er im türkischen Kugelregen nicht nur spazierengegangen, sondern hatte seinen Rattenfänger auf das Apportieren von Sprengstücken abgerichtet; acht Jahre später in Rio verfiel er dem Wahnsinn. Seine Lebensweise hatte die angeborene Exzentrizität unterstützt. »Champagner in Eis« war sein steter Begleiter und seine oft abgegebene Versicherung, »daß er seines Vaters Bibliothek in den Keller getragen habe«, war nur allzu richtig. So konnte die Katastrophe kaum ausbleiben. Eine reich angelegte Natur ging in ihm zugrunde.

Daß ich Gräbern wie diesen auf dem Geltower Kirchhofe begegnen würde, der Gedanke hat mir fern gelegen. Ich las die einfachen Inschriften, nahm ein Efeublatt vom Grabe des Vaters und stand noch immer wie im Bann dieser Stätte.

Unser Führer endlich löste ihn. »Da drüben ist noch ein Grab, das Sie sehen müssen.« – Zugleich brach er auf und gab uns dadurch das Zeichen, ihm zu folgen.

Ein dichtes Fliedergestrüpp hatte uns wie eine Kulisse von dem eigentlichen Kirchhof, der jetzt, wie erwähnt, seine zweite Bestellzeit hat, getrennt, und wir standen nunmehr, nachdem wir das Gestrüpp glücklich durchbrochen, vor einer kleinen Gräberreihe, die das so lange brach gelegene Feld neu zu durchziehen begann. Eines der Gräber war besonders gehegt und gepflegt: ein Gartenbeet mit Rosen und Nelken, mit Levkojen und Heliotrop dicht überwachsen. Zu Häupten des Grabes stand ein Kreuz, dahinter hohe Malven. Die Inschrift lautete: »Hier ruhet in Gott Johann Schupke, geboren den I. Februar 1822, gestorben den 30. November 1865. Jesaias Cap. 57 V. 2: Und die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern.«

Die Sonne war am Untergehen; die schönste Zeit des Tages zumal für eine märkische Landschaft. Wir ließen deshalb die Gräber, unterbrachen unser Gespräch und stiegen die Kirchturmtreppe hinauf, um uns, nachdem wir die Luken geöffnet, der im Golde daliegenden Schwielowufer zu freuen. Wie schön! Hier oben erst erneute sich das Gespräch. »Ja, von unserm Schupke wollt' ich erzählen«, so hob unser Führer an. Ich nickte zustimmend.

»Gott hab' ihn selig, das war ein Mann und durch schwere Schulen war er gegangen! Wen Gott lieb hat, den züchtigt er. Und das muß ich sagen: wenn der Himmel je einen preußischen Förster lieb gehabt hat, dann hat er Schupken lieb gehabt.«

»War er ein Alt-Geltower?« fragte ich, um wenigstens etwas von Teilnahme auszudrücken.

»Da seh ich, daß Sie ihn nicht gekannt haben. Er war ein Schlesier, aus dem Riesengebirge oder so herum, und sprach das Rübezahl-Deutsch bis an sein seliges Ende. Nie ist ein reines a über seine Lippen gekommen.«

»Wie kam er denn in diese Gegenden?«

»Wie so viele andere hierherkommen. Er wurde nicht lange gefragt. Sie hoben ihn aus, und ein schmucker Junge, wie er war, nahmen sie ihn zur Garde. Er stand bei den Jägern.«

»Und durch schwere Schulen ist er gegangen, sagten Sie?«

»Das will ich meinen! Lassen Sie sich erzählen. Der grüne Jägerrock sticht in die Augen; grün geht noch über blau; kurz und gut, Schupke wurde ein glücklicher Liebhaber. Der Himmel hing ihm voller Geigen. Ob er das Mädchen heiraten wollte, weiß ich nicht, aber sie hielt zu ihm, und eines Tages, der Böse hatte sein Spiel, schenkte sie ihm Uhr und Kette. Eine goldene Uhr. Es sei ein Erbstück; ein Onkel von ihr sei gestorben.

Das hätte nun unsern Schupke wohl stutzig machen sollen; aber der Mensch ist eitel, und wenn er hübsch ist und erst zweiundzwanzig Jahr, dann ist er's doppelt, kurzum Schupke nahm die Uhr und freute sich dran; die kleine goldene Kette paradierte zwischen dem dritten und sechsten Knopf, und wenn ihm ein Gedanke durch den Kopf ging, so dachte er: ›Es sterben so viele; warum soll er nicht gestorben sein?‹

Es sterben so viele Onkel, aber ihr Onkel, des Mädchens Onkel war nicht gestorben und schon am andern Tage hieß es: des alten Wolffenstein goldene Uhr wird vermißt, Uhr und Kette; und eine Stunde später hieß es: man weiß, wer sie hat; sie hat es gestanden.

Das ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt; es kam auch in die Jägerkaserne. Schupke wurde leichenblaß. Ein unbescholtener Mann, makellos, aller Leute Liebling, – und nun entehrt. ›Ich hab es nicht gewußt‹; aber wer hätt' es geglaubt? Der Schein war gegen ihn. Es schüttelte ihn am ganzen Leibe; er riß das Fenster auf, um wieder frei zu atmen; es half nichts; ein furchtbares Anklagewort gellte ihm vor den Ohren; er hörte das Ticken der unglückseligen Uhr auf seiner Brust; er tat sie weg – es tickte noch.

Es mußte sein; er nahm seine Büchse und ging hinaus.

Aber das Leben ist süß. Er irrte draußen umher, erst an der Havel hin, dann links in den Forst hinein. ›Jetzt!‹ Er riß seinen Rock auf. Nein, noch nicht. So vergingen Stunden.

Wo ist Schupke? hieß es derweilen in der Kaserne. Man öffnete seinen Schrank. Da lagen Uhr und Kette. Man sah auf den Büchsenstand. Eine Büchse fehlte; Schupkes. Alles war klar.

Der Hauptmann seiner Kompanie, Graf Schlieffen, warf sich aufs Pferd. Der Weg war wie vorgeschrieben. Er sagte sich: ein Jäger ist in den Wald gegangen. Fünfhundert Schritt hinterm Schützenhause begegnete ihm ein Mann, der Reisig auf seiner Karre heimkarrte. ›Guten Tag, Papa, habt Ihr nicht einen Gardejäger hier herum gesehen?‹

›Woll, den hebb ick sehn. Reitens man to, Herr Hauptmann. Mit den Jäger is et nich richtig. Ich kaek upp'n Kirchhof. Da läg he an een von de Gräbers up sine Knie, un ick hürte, wie he lies' beden und spreeken deih. Un denn legt he sinen Kopp up det Grab, immer deeper int Gras. Mit den Jäger is et nich richtig. Reitens man to, Herr Hauptmann.‹

Also doch. Graf Schlieffen jagte vor. In einer Minute hielt er an dem halb angelehnten Torflügel. Da lag der Gardejäger noch auf seinen Knien, wie der Reisigsammler erzählt hatte, und betete. Schupke! rief der Graf.

Schupke sprang auf und griff nach seiner Büchse. Er sah wie gestört aus; dann winkte er mit der Hand, wie um anzudeuten: der Graf solle ihn nicht stören.

Der aber ritt näher. Schupke winkte noch einmal. Als der Graf auch jetzt noch weiter vorritt, legte Schupke die Büchse an die Schulter: Zurück, Herr Hauptmann, oder ich schieße!

Der Graf hielt; – ein Gardejäger trifft seinen Mann. So war Zeit gewonnen. Im nächsten Augenblick aber fiel ein Schuß. Schupke hatte sich in die Brust geschossen.

Auf einer Bahre trugen sie ihn heim. Er schien ein Sterbender. Aber die Jugend war stärker als der Tod. Drei Jahre lang lag er im Lazarett, die Kugel hatte ihm ein Stück Tragband mit in die Lunge gejagt; dann stand er auf und war ein genesener Mann. Kein Mensch in Potsdam sprach von dem, was vorhergegangen war; in Mitleid war jede andere Betrachtung untergegangen; jeder hatte ein tiefes Mitgefühl für den Mann von Ehre, der die leise Schuld, die ihn traf, mit seinem Blute bezahlt hatte. Er verließ das Lazarett und wurde Förster in der Pirschheide. Hier, wo die Lichtung ist, dort stand sein Haus.

Das Trauerspiel war aus; das Idyll begann. Er schloß eine glückliche Ehe, und ehe zehn Jahre ins Land gegangen waren, war er eine ›Figur‹ in Havelland und Zauche. Er trat wie ein Sonnenschein in jeden Kreis; jedes Gesicht wurde heiterer, die Kinder liefen ihm entgegen und reichten ihm die Hand. Er hatte die glücklichste Mischung: einen festen Sinn und ein freundliches Herz.

So lebte er in unserer Mitte, unseres Dorfes Stolz, sich und andern zur Freude. Aber er sollte nicht zu hohen Jahren kommen. Eines Morgens – alle Dächer lagen in Reif und die Sonne stand wie eine rote Kugel über den Bäumen, – da lief es von Haus zu Haus: Schupke ist tot. Es war nur allzu wahr.

Er hatte einen eigenen Tod gehabt. Einen etwas engen Stiefel mit Gewalt anziehend, war eines der vernarbten Blutgefäße wieder geplatzt und der Erguß in die Lunge hatte seinem Leben ein Ziel gesetzt.

Drei Tage später haben wir ihn begraben. Keiner fehlte. Es waren herzliche Tränen, die auf sein Grab fielen. Die Pirschheide hatte keinen bessern Mann gesehen.«

So erzählte unser Führer. Die Sonne war inzwischen untergegangen; wir gaben unsern Lukenplatz auf und stiegen hinunter. Ein weißer, kaum fußhoher Nebel zog über den Kirchhof hin und hüllte die Gräber ein; aber die Kreuze ragten hell darüber hinaus und auf der goldenen Inschrift des einen lag es wie ein letzter Schimmer.




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 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 09:47:08 •
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