Epikurs Kanon


Du wirst folgendes finden: die Sinne verschaffen vor allem

Uns die Erkenntnis des Wahren, die Sinne sind unwiderleglich.

Denn viel größres Vertrauen muß immer erwecken, was selber

Unabhängig von andrem den Irrtum schlägt mit der Wahrheit.

Was kann also vertrauenerweckender sein als die Sinne?

Oder wie darf ein falsch aus der Sinnesempfindung gezogner

Schluß, der doch ganz aus den Sinnen geboren ist, gegen sie gelten?

Sind die Sinne nicht wahr, dann täuschen auch sämtliche Schlüsse.

     Oder vermöchte das Auge den Fehler des Ohrs zu bekritteln,

Oder das Ohr des Gefühls? Soll dies der Geschmack überführen?

Dies die Nase bestreiten, das Auge dagegen sich wenden?

Nein, so ist es wohl nicht. Denn ein jeglicher Sinn hat sein eigen Reich und

sein eigen Vermögen und deshalb muß jeder, was weich ist

Oder was kalt, was warm, mit besonderem Sinne empfinden

Und die verschiedenen Farben und Formen und alles, was sonst sich

Diesen vereinet, gesondert mit anderem Sinne bemerken.

Ebenso wirkt der Geschmack mit besonderer Kraft, und gesondert

Kommen Geruch und Gehör zur Empfindung. So ist es unmöglich,

Daß ein Sinn durch den ändern zur Widerlegung gebracht wird.

Niemals können nun gar die Sinne sich selber bekritteln;

Denn ein jeder verdient allzeit das gleiche Vertrauen.

Folglich ist jedesmal wahr, was den Sinnen so jedesmal dünket.

     Und wenn gleich der Verstand nicht vermöchte die Frage zu lösen,

Weshalb, was in der Nähe ein Viereck war, aus der Ferne

Rund uns erschien, empfiehlt es sich doch, wenn uns mangelt die Einsicht,

Lieber falsch zu erklären die doppelte Form der Gestaltung

Als Handgreifliches je aus der Hand sich entwischen zu lassen

Und an dem Grundvertrauen zu rütteln und niederzureißen

Unseres Lebens und Heils grundlegende Fundamente.

Nicht nur jedes System zerfiele sofort, auch das Leben

Bräche dann selber zusammen, wofern du den Sinnen nicht trautest,

Oder des Wahns Abgründe nicht miedest und sonst'ge Versuchung,

Und nicht zu folgen wagtest entgegengesetzten Maximen.

Alles mithin, was gehäuft wird, gegen die Sinne zu sprechen,

Darf dir nichts weiter bedeuten als inhaltloses Gerede.

     Wie ja auch schließlich beim Bau, wenn das Grundlineal nicht gerade,

Wenn auch das Richtmaß falsch und mit schiefen Winkeln gebaut ist

Oder das Bleilot endlich auch nur um ein Tüttelchen abweicht,

Da muß alles vertrackt und windschief werden am Hause,

Alles verpfuscht und vorn wie hinten zum Dache nicht passend,

Daß schon einzelne Teile mit Einsturz drohen, ja wirklich

Stürzen; verfehlt war eben von Grund aus die ganze Berechnung.

So müßt' auch jedwedes System verpfuscht und verkehrt sein,

Falls dir die Sinne, auf die du gebaut, sich als irrig erwiesen.

 

Jetzt bleibt nur noch zu sagen (das ist kein schwindelnder Weg mehr),

Wie von den übrigen Sinnen ein jeder was andres empfindet.


 © textlog.de 2004 • 20.04.2024 10:57:24 •
Seite zuletzt aktualisiert: 14.09.2005 
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