b) Philosophisches


1. Grundlage und Ausgangspunkt. Augustins »Philosophie«, wenn man von einer solchen sprechen will, findet sich bei ihm nirgends als zusammenhängendes System entwickelt, sondern ist aus einzelnen Stellen seiner Schriften herauszuschälen. Grundprinzip und Ausgangspunkt ist die Selbstgewißheit der inneren Erfahrung. Wie Sokrates, wendet auch Augustin sich von der äußeren Natur ab und ganz dem inneren Leben zu. »Gott und die Seele begehre ich zu erkennen. Weiter nichts? Nein, gar nichts.« »Gehe nicht nach draußen, kehre in dich selbst ein; im Inneren des Menschen wohnt die Wahrheit.« Wie aber ist sie zu finden? Was bleibt bestehen, wenn alles andere zweifelhaft geworden ist? Die Selbstgewißheit meines inneren Lebens. Selbst, um zweifeln und irren zu können, muß ich zuerst existieren. Wer zweifelt, weiß, dass er lebt, dass er vorstellt, ja, dass er will, indem er nach der Wahrheit strebt. Er zeigt durch sein Zweifeln, dass er einen Maßstab der Wahrheit mindestens sucht, dass er außer der sinnlichen Empfindung die höhere Fähigkeit des Denkens oder der Vernunft (intellectus, ratio), d. i. das Vermögen der Anschauung unkörperlicher Wahrheiten besitzt, die für alle Denkenden dieselben sein müssen. Dann jedoch folgt die theologische Wendung. Diese »an sich gewissen«, »ewigen« Wahrheiten oder Ideen ruhen in Gott. Gott, den freilich menschliches Denken nie ganz erfassen kann, ist der Urquell aller Dinge, das höchste Sein und zugleich das höchste Gut, die höchste Liebe und die höchste Schönheit. Auf ihn werden denn auch die Grundtätigkeiten der menschlichen Seele: das Vorstellen, Urteilen und Wollen - auch esse nosse velle genannt - als Allmacht, Allweisheit, Allgüte übertragen.

2. Die Lehre vom Willen. Der Kern des menschlichen Wesens liegt im Willen. Schon die äußere und noch mehr die innere Sinnestätigkeit sind als »Strebungen der Seele« (intentiones animi) wesentlich Willensakte, desgleichen das verstandesmäßige Denken in seiner Richtung und seinem Zweck. Es ist ein Wille, wie ihn Augustin selbst in den inneren Kämpfen seiner dürstenden Seele erzeugt hatte, der auf dem leidenschaftlichen Verlangen nach Glück und Seelenfrieden bei einer von Natur starken Sinnlichkeit beruht. In bezug auf die höchsten Wahrheiten muß sich der menschliche Geist freilich der göttlichen Erleuchtung und Offenbarung unterordnen, die ihm durch Gottes Gnade zufließt. Doch auch sie können nur von dem ebenfalls auf einem Willensakt beruhenden Glauben ergriffen und der Seele zu eigen gemacht werden. In der schwierigen Frage der Vereinigung der menschlichen Willensfreiheit mit dem göttlichen Vorauswissen stand Augustin anfangs, wie fast alle seine theologischen Vorgänger, mehr auf selten der ersteren. Religiös-kirchliche Gesichtspunkte haben ihn dann zu einer immer stärkeren Hervorhebung der göttlichen Vorausbestimmung (Prädestinationslehre), wie sie schon in den paulinischen Briefen angebahnt ist, geführt. Die Willensfreiheit wird nun auf Adam, den ersten Menschen, beschränkt; seitdem hat der Mensch nur noch die Freiheit zum Bösen, nicht zum Guten (Erbsünde), womit übrigens, wie wir sehen werden, die Freiheit des sittlichen Handelns im gewöhnlichen (nichtreligiösen) Leben vereinbar ist. Je tiefer der Mensch, desto höher Gott. Nur die göttliche Gnade vermag den Menschen vom zeitlichen und ewigen Verderben zu erretten. Sie wird vermittelt durch die Kirche und ihre Sakramente: Extra ecclesiam nulla salus. Anspruch auf diese Gnade hat er nicht; es ist Sache Gottes, auszuwählen, welchen er will. Die weitere Erörterung dieser Frage in den Streitigkeiten mit Pelagius u. a. gehört der Kirchengeschichte an.

3. Geschichtsphilosophie. Aus denselben Prinzipien ergibt sich Augustins in seinem großen Werke Über den Gottesstaat niedergelegte Geschichtsphilosophie. Auch die weltgeschichtliche Entwicklung steht von vornherein durch Gottes Ratschluß unverbrüchlich fest, ohne dass der Mensch selbsttätig eingreifen könnte. Seit Anfang der Welt (hier klingen manichäische Erinnerungen nach) streiten miteinander zwei Reiche, dasjenige Gottes und das des Teufels, der irdische (civitas terrena) und der Gottesstaat. Der erstere, ein Erzeugnis der Sünde, jagt naturgemäß irdischen, egoistischen Zwecken nach; im besten Falle ist er eine von Gott verordnete Zwangsanstalt zur Bestrafung und Linderung des Bösen, niemals aber Selbstzweck. Der Gottesstaat existiert schon jetzt im Himmel und zieht seine auf Erden - dort nur als Fremdlinge - weilenden Glieder allmählich an sich. Die Entwicklung der Menschheit erfolgt dem göttlichen Erziehungsplane gemäß in sechs, den verschiedenen Lebensaltern des Menschen vergleichbaren, Stufen (Perioden), die sich an die biblische Überlieferung (6 Schöpfungstage) und die Geschichte Israels anlehnen. Für das Griechentum zeigt unser Kirchenvater nur geringes Verständnis, noch weniger für das zu seiner Zeit allerdings in Auflösung begriffene Römertum. In der letzten, mit Christus anhebenden, Periode stehen wir jetzt. Das nahe bevorstehende Ende wird für die Gläubigen der Eingang in das himmlische Jerusalem, damit in die ewige Ruhe und Seligkeit, für die Angehörigen des weltlichen Staates die ewige, unwiderrufliche Verdammnis sein: also im Gegensatz zu Origenes' Glauben an eine schließliche Versöhnung und Wiedervereinigung mit Gott, ewige Scheidung in das Reich Gottes und des Satans. Das ist aus Platos Staat in der christlichen Philosophie geworden! Von Sozialphilosophie zeigt sich keine Spur. Kommunistische Regungen Seiner donatistischen Gegner hat der Bischof von Hippo, wie die »triumphierende« Kirche allezeit, aufs schärfste abgewiesen.

4. Ethisches. So sehr das letzte Ziel bei Augustin auch ein theoretisches, der selige Friede im Anschauen Gottes im Jenseits ist, so hat er doch für diese Zeitlichkeit energisches sittliches Handeln verlangt und selbst geübt, in einem gewissen Widerspruch zu seiner religiösen Lehre von der Erbsünde und Gnade Gottes (s. oben). Und zwar aus der inneren Gesinnung heraus, die aber ihrem Inhalte nach - christlich sein muß; denn alle heidnischen Tugenden sind wertlos, »glänzende Laster«, wenn man nicht den richtigen Glauben hat. Trotzdem knüpft er an die antike Philosophie an, wenn er die Tugend als ein mit der Vernunft übereinstimmendes Verhalten oder als die Lebenskunst definiert, die zur ewigen Glückseligkeit führe. Seine angewandte Ethik nimmt die vier platonischen Kardinaltugenden auf, will sie aber durch die drei christlichen: Glaube, Liebe, Hoffnung ergänzt wissen.

Augustin ist eine überaus vielseitige Natur. Er zeigt eine merkwürdige Verbindung von tiefinnerlicher Religiosität und strengster äußerlicher Kirchlichkeit, Gesetzesstrenge und Liebe, verstandesgemäßem Denken und mystischer Schwärmerei. So haben denn bis ins 16. Jahrhundert hinein die verschiedensten religiösen und theologischen Bewegungen an Ihn angeknüpft. »Er ist der Vater der römischen Kirche und der Reformation, der Biblizisten und der Mystiker, ja selbst die Renaissance und die moderne empirische Philosophie (Psychologie) sind ihm verpflichtet.« (Harnack, Grundriß II, S. 12.) Er ist der Kirchenvater des Abendlandes geworden, und vor allem seine machtvolle Persönlichkeit hat die antike Weltanschauung auf fast ein Jahrtausend aus dem christlich gewordenen Europa verdrängt.


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