§ 52. Urchristentum und Philosophie. Gnostizismus.
Nicht durch seinen philosophischen, sondern durch seinen sittlich-religiösen Inhalt hat das Christentum die Gemüter ergriffen und schließlich die abendländische Welt erobert. Nicht in wissenschaftlichen Beweisen suchte es seine Stütze, sondern in der praktischen Bewährung: wer den Willen des Vaters im Himmel tut, der wird inne werden, ob Jesu Lehre wahr d. i. von Gott ist. Von Gott stammt das neue Gebot der Liebe zu ihm selbst und dem Nächsten, das die bessere Gerechtigkeit darstellt. Der Weg dahin ist die Sinnesänderung: Demut, Selbstverleugnung, Gottvertrauen, die uns Sündenvergebung und Einigung mit Gott verschaffen; das Ziel: Aufrichtung des Reiches Gottes, das Jesus, der Verkünder dieser frohen Botschaft, als der von den Propheten verheißene Messias demnächst sichtbar aufrichten wird. Dies in Kürze der Kern des Jüngerglaubens.
Demgegenüber ist nun Paulus der erste spekulative Kopf, der erste Theologe des Christentums gewesen, der, über die Schlichtheit des Evangeliums hinausgehend, sich theoretisch mit dem Gesetzesbegriff des Alten Testaments auseinandersetzt, aber insofern selbst in der jüdischen Auffassung befangen bleibt, als er dem »Gesetze« des Alten Bundes nur durch den stellvertretenden Opfertod Christi ein »gesetzliches« Ende machen zu können meint, worauf dann ein völlig neues geistiges Leben der Seele beginnen könne. Nach der nicht jüdischen Seite finden sich weit weniger Anknüpfungspunkte. Gegen die Philosophie verhalten die paulinischen Briefe sich sehr ablehnend19.
»Sehet zu, dass euch niemand beraube durch Philosophie und lose Verführung, die auf menschlicher Überlieferung, nicht auf Christus beruht,« heißt es in dem Briefe an die Kolosser 2, Vers 8. Dagegen verrät das später verfaßte, jedoch nicht nach 110 anzusetzende vierte (sogen. Johannes-) Evangelium deutlich genauere Bekanntschaft (nach A. Harnack nicht »Durchdringung«) mit der alexandrinischen Logos-Philosophie (§ 48). Leider fand von dort (Philo) aus auch die zweideutige Kunst der allegorischen Auslegung und die Dämonenlehre in das Urchristentum Eingang. Auch die enthusiastische Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi hält an; desgleichen machen asketische Züge sich bereits bemerkbar.
Die Schriften der zwischen 93-150 in griechischer Sprache schreibenden sogen. »apostolischen Väter« (Clemens und Hermas von Rom, Ignatius und Polykarp aus Kleinasien u. a.) sind nur als historische Quellen, durch ihr Alter, merkwürdig. Sie stehen inhaltlich den uns aufbewahrten Schriften des neutestamentlichen Kanons bedeutend nach und sind philosophisch ohne weiteres Interesse. Der erste, freilich fehlgeschlagene Versuch einer Philosophie des Christentums ist der Gnostizismus.
Inhalt:
|
|