Zweites Kapitel:
Das Ideal der Skulptur


Bei dem Übergange zur Betrachtung des eigentlich idealen Stils der Skulptur müssen wir uns noch einmal daran wieder erinnern, daß der vollkommenen Kunst notwendig die unvollkommene voranzugehen hat, und zwar nicht bloß der Technik nach, welche uns zunächst hier nichts angeht, sondern der allgemeinen Idee, der Konzeption und Art und Weise nach, dieselbe idealisch darzustellen. Die suchende Kunst haben wir überhaupt die symbolische genannt, und so hat auch die reine Skulptur eine Stufe des Symbolischen zu ihrer Voraussetzung und nicht etwa eine Stufe der symbolischen Kunst überhaupt, d. h. der Architektur, sondern eine Skulptur, der noch der Charakter des Symbolischen inne-wohnt. Daß dies in der ägyptischen Skulptur der Fall sei, werden wir noch später im dritten Kapitel zu sehen Gelegenheit finden.

Als das Symbolische einer Kunst können wir hier vom Standpunkt des Ideals aus, schon ganz abstrakt und formell, die Unvollkommenheit jeder bestimmten Kunst überhaupt annehmen: den Versuch z. B., den Kinder machen, indem sie eine menschliche Figur zeichnen oder aus Wachs und Ton kneten. Was sie herausbringen, ist insofern ein bloßes Symbol, als es das Lebendige, das es darstellen soll, nur andeutet, dem Gegenstande und dessen Bedeutung gegenüber aber vollkommen ungetreu bleibt. So ist die Kunst zunächst hieroglyphisch, kein zufälliges und willkürliches Zeichen, sondern eine ungefähre Zeichnung des Gegenstandes für die Vorstellung. Hierzu ist eine schlechte Figur hinreichend, wenn sie nur an die Gestalt erinnert, die sie bedeuten soll. In der gleichen Weise begnügt sich auch die Frömmigkeit mit schlechten Bildern und verehrt in dem gesudeltesten Konterfei immer noch Christus, Maria oder irgendeinen Heiligen, obschon dergleichen Gestalten nur durch besondere Attribute, wie z. B. eine Laterne, einen Rost, einen Mühlstein usw., individualisiert sind. Denn die Frömmigkeit will nur überhaupt an den Gegenstand erinnert sein; das übrige tut das Gemüt hinzu, welches durch das wenn auch ungetreue Abbild dennoch von der Vorstellung des Gegenstandes erfüllt werden soll. Es ist nicht der lebendige Ausdruck der Gegenwart, der gefordert ist, es ist nicht das Gegenwärtige, das durch sich selbst uns entzünden soll, sondern das Kunstwerk ist schon zufrieden, durch seine wenn auch nicht entsprechenden Gestalten die allgemeine Vorstellung der Gegenstände anzuregen. Nun ist aber die Vorstellung immer schon abstrahierend. Bekanntes, wie ein Haus, einen Baum, einen Menschen z. B., kann ich mir wohl leicht vorstellen, aber die Vorstellung bleibt, obschon sie hier in ganz Bestimmtem versiert, doch bei den ganz allgemeinen Zügen stehen und ist überhaupt erst dann eigentlich Vorstellung, wenn sie von der konkreten Anschauung die ganz unmittelbare Einzelheit der Gegenstände getilgt und dieselbe vereinfacht hat. Ist nun die Vorstellung, welche das Kunstgebilde zu erwecken bestimmt ist, die Vorstellung vom Göttlichen, und soll dieselbe für alle, für ein ganzes Volk erkennbar sein, so wird dieser Zweck vorzugsweise dadurch erreicht, daß in der Darstellungsweise gar keine Veränderung eintritt. Dadurch wird dann die Kunst einerseits konventionell, andererseits statarisch, wie dies nicht nur bei der älteren ägyptischen, sondern auch bei der älteren griechischen und christlichen Kunst der Fall ist. Der Künstler hatte sich an bestimmte Formen zu halten und deren Typus zu wiederholen.

Den großen Übergang zum Erwachen der schönen Kunst können wir deshalb erst da suchen, wo der Künstler frei nach seiner Idee bildet, wo der Blitz des Genius in das Hergebrachte einschlägt und der Darstellung Frische und Lebendigkeit erteilt. Erst dann verbreitet sich der geistige Ton über das Kunstwerk, das sich nicht mehr darauf beschränkt, nur überhaupt eine Vorstellung ins Bewußtsein zu rufen und an eine tiefere Bedeutung, welche der Beschauer sonst schon in sich trägt, zu erinnern, sondern dazu fortgeht, diese Bedeutung als ganz in einer individuellen Gestalt lebendig vergegenwärtigt darzustellen, und deshalb weder bei der bloßen oberflächlichen Allgemeinheit der Formen stehenbleibt, noch sich andererseits in Rücksicht auf die nähere Bestimmtheit an die Züge der gemeinen vorgefundenen Wirklichkeit hält. Das Hindurchdringen zu dieser Stufe ist nun auch die notwendige Voraussetzung für das Entstehen der idealen Skulptur.

Was wir in Rücksicht auf sie hier festzustellen haben, betrifft die folgenden Gesichtspunkte:

Erstens handelt es sich, den soeben besprochenen Stufen gegenüber, um den allgemeinen Charakter der idealen Gestalt und ihrer Formen.

Zweitens müssen wir die besonderen Seiten angeben, welche von Wichtigkeit werden, die Art der Gesichtsbildung, Gewandung, Stellung usf.

Drittens ist die ideale Gestalt nicht eine nur allgemeine Form der Schönheit überhaupt, sondern befaßt durch das Prinzip der Individualität, das zum echten lebendigen Ideal gehört, wesentlich auf die Seite der Besonderung und deren Bestimmtheit in sich, wodurch sich der Kreis der Skulptur zu einem Zyklus einzelner Götterbilder, Heroen usf. erweitert.



Inhalt:


1. Allgemeiner Charakter der idealen Skulpturgestalt
2. Die besonderen Seiten der idealen Skulpturgestalt als solcher
3. Individualität der idealen Skulpturgestalten


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