Jetzt ist die Zeit
wo die Kunst, die Industrie, die Literatur, die Wissenschaft, die Lebewelt, die Diplomatie, das höfische, das offizielle wie das vornehm-bürgerliche Wien ihre Vertreter entsenden, wobei man sich vorstellen muß, wie heftige Debatten vorausgegangen sein mögen. So zum Beispiel ist die ganze Kunst irgendwo versammelt und beschließt, auf den Industriellenball Rauchinger zu entsenden, und die Literatur, noch schwankend zwischen Glücksmann und Müller, entscheidet sich schließlich für diesen, während jener auf den Hausindustrieball geschickt wird. Unaufhörlich werden Vertreter entsendet. Am Abend erstrahlt ein Meer von Licht, das betäubend und doch nicht grell, berauschend und dabei diskret von der hohen Decke niederflutet, und alles wirkt zusammen, um ein einzig schönes und vornehmes Bild zu schaffen. Alles flutet und wogt. Was tun aber die Vertreter der verschiedenen Berufe, wie stehen sie zu einander, wie vertreiben sie sich die Zeit, bis es der Jugend endlich in den Sinn kommt, sich das Tanzrecht zu erobern? Noch zögert diese und zieht es aus irgend einem Grunde vor, sich mit den Vertretern zu unterhalten. Da spielen sich denn überraschende Dinge ab, Dinge, die man in diesem von der Parteien Zwist durchwogten Lande einfach nicht für möglich gehalten hätte. Es sind nämlich plötzlich auch Pioniere eingedrungen und man sieht sie mit Magnaten sprechen. Bei näherem Hinsehen aber erkennt man, dass es die Pioniere unserer Industrie sind und die Bankmagnaten, und diese beiden sowie die Minister, die Lebewelt und die Jugend sieht man nun harmonisch und ungezwungen vereint durch den Saal schreiten. Keiner tut dem andern was, keiner sagt dem andern, dass er ihm den Buckel herunterrutschen könne, weil einer dem andern es von selbst tut. Alle diese Bälle haben nun das Gemeinsame, dass von jedem das gilt, was von keinem andern gilt, und dass man jeweils nichts von jener Balldekadenz fühlt, über die sonst geklagt wird. Überall ist die eigenartige Mischung interessanter Elemente das, was jedem den Vorzug vor den anderen gibt, und der glanzvolle Verlauf das, was ihn jedes Jahr von seinen eigenen Vorgängern unterscheidet, und pfui der Ball, von dem nicht mit Recht gesagt werden kann, dass man auf keinem andern Ball so sehr das Empfinden der jauchzenden und brausenden Lebenslust hat und dass Animo und Laune noch intensiver zu sein schienen als je vorher. Der Industriellenball und der Concordiaball und alle andern Bälle machen einander und sich selbst mit Erfolg den Vorrang streitig. Das zeigt sich schon im geringsten Detail. Jeder Ball ist guter Tradition gemäß der am zeitlichsten beginnende aller Bälle. Schon kurz nach 8 Uhr tauchen die ersten Gäste auf und bald beginnt ein intimes Promenieren, ein Begrüßen von Ecke zu Ecke (lauschig), von Loge zu Loge. Diese Intimität weicht aber bald, denn Schlag 9 Uhr füllt sich der Saal, die Luft wird besser und während sich draußen, durchflutet drinnen. Im Patronessenraum geht es bald zu wie bei einem Hoffest. Bei einem Hoffest geht es bald zu wie auf dem Concordiaball. Leuchtende Frauenschultern sind das geringste. Reiherfedern, die aus Diamantenagraffen herauswachsen — Wunder der Natur — werden bemerkt und zur allgemeinen Überraschung — aah! — erscheinen weißbärtige Herren, deren Frack mit Ordensbändchen besät ist. Aus den schlichten Industriepionieren sind plötzlich Industriefürsten geworden. Dazwischen mischen sich Gelehrte, unter denen aber Kant und Schopenhauer sich nicht befinden dürften. Aller Augen sind natürlich auf die Minister gerichtet. Und hie und da hört man — die Neugierde kommt auf ihre Kosten — zwischen gleichgiltigen Redensarten ernsthafte Worte laut werden, und während sich hier ein Minister über die Hand einer schönen Frau beugt, bespricht dort ein anderer inmitten einer Gruppe von Herren die politische Lage, die Wirren im Innern und die Aussichten für die nächste Zukunft. Ich, ein Outsider, der fürs Leben gern so etwas einmal hören möchte, würde sofort den Minister, der in der Gruppe steht, mir herausholen und nachhause schicken. Ich würde ihm raten, anstatt hier herumzustehen, lieber Abortherr in einem Berliner Lindencafé zu werden. Die Dame, über deren Hand er sich gebeugt hat, würde ich zwingen, eine politische Lage einzunehmen, und wenn ich ihr so die Wirren im Innern beruhigt hätte, würde ich die Aussichten für die nächste Zukunft mit ihr besprechen. Aber das sind Sonderbestrebungen und der einzelne vermag nichts gegen die Übermacht. Zum Schwarzsehen ist übrigens kein Grund. Während die Minister und die Industriekönige beisammenstehen, dringt immer wieder ein Ton von Lebenshoffnung und Zukunftsvertrauen siegreich aus allen Gesprächen hervor. Bald darauf erscheinen die, die sich begeben. Kaum ist aber der offizielle Teil vorüber, jauchzt ein Walzer auf, und schon. Die ersten Paare drehen sich im Dreivierteltakt. Nun hat die Jugend erreicht, was zu erreichen war, man soll es ihr gönnen. Nun folgen achtzigtausend Namen. Die meisten heißen entweder Klobasser oder Herzfelder. Es kommen die kaiserlichen Räte Anhauch, Bachstelz und Neurath. Es ragen hervor die Kommerzialräte Gog & Magog. Das Tier mit den drei Häuptern erscheint: Benies, Kubies und Welles. Schreckliches wird geschehen. Man bemerkt Stiaßny. Von allen Seiten strömen Konsuln herbei, umsichtige Vertreter von Champagnerfirmen, gegen die Napoleon ein Waisenknabe ist. Sie heißen Schnabel. Die Inspektoren Sprinzl, Vinzl und Schwanzl springen herein. Sie gewinnen die Estrade. Travniczek, Geiduschek und Bartunek sind auch schon zur Stelle. Die Namen Rappeport, Perelis und Pospichal entziehen sich übermütig der Norm. Einer ist tollkühn und heißt Polacco. Die Kausalität ist aufgehoben. Die himmlischen Heerscharen rauschen durch den Saal und ihren Zug beschließt ein Angelo namens Eisner. Es folgen die Toiletten, die dahinschweben und Damen tragen. Es geschieht, dass die Putzi Saxl eine gobelinblaue Satin souple-Robe mit einem Überkleid aus silbergrauem Musselin mit kurzen geschlitzten Ärmeln hat, während die Lixi Bunzl zersprungen ist.
März, 1914.