Charakter

Charakter. (Schöne Künste) Das eigentümliche oder unterscheidende in einer Sache, wodurch sie sich von anderen ihrer Art auszeichnet.

 Die schönen Künste, welche Gegenstände aus der sichtbaren und unsichtbaren Natur zur Betrachtung darstellen, müssen jeden so bezeichnen, dass die Gattung, zu der er gehört oder auch das besondere, wodurch er von jedem anderen seiner Art unterschieden wird, kann erkennt werden. Demnach ist die genaue Bemerkung des Charakteristischen, ein Hauptteil der Kunst. Der Maler muss jedem Gegenstand in allem, was an ihm sichtbar ist, den Charakter seiner Gattung oder auch, (wie in Portraiten) den einzeln Charakter, wodurch er sich von allen Dingen seiner Art auszeichnet, zu geben wissen und so muss jeder andere Künstler die Charaktere der Dinge bezeichnen können.

 Es gehört demnach vorzüglich zu dem Genie des Künstlers, dass er in Gegenständen der Sinne und der Einbildungskraft, das Charakteristische bemerke. Dazu aber wird ein überaus scharfer Beobachtungsgeist erfordert, den man für sichtbare Dinge besonders, ein scharfes malerisches Auge nennt. Wie der Maler, sobald er einen Gegenstand recht in das Auge gefasst hat, so gleich die wesentlichen Züge desselben durch die Zeichnung darstellen kann, so muss jeder Künstler in seiner Art das unterscheidende der Sachen schnell fassen und ausdrücken können. Und in dieser Fähigkeit scheint die Anlage des Genies für die schönen Künste zu bestehen; so dass vielleicht aus der Fähigkeit, die Charaktere der Dinge zu bemerken, der richtigste Schluss auf des Künstlers Genie könnte gemacht werden.

  Unter den mannigfaltigen Gegenständen, welche die schönen Künste uns vor Augen legen, sind die Charaktere denkender Wesen ohne Zweifel die wichtigsten; Folglich ist der Ausdruck oder die Abbildung sittlicher Charaktere das wichtigste Geschäft der Kunst und besonders die vorzüglichste Gabe der Dichter. In den wichtigsten Dichtungsarten, der Epopee und dem Drama, sind die Charaktere der handelnden Personen die Hauptsache. Wenn sie richtig gezeichnet und wohl ausgedruckt sind, so lassen sie uns in das Innere der Menschen hineinschauen und gestatten uns, jede Wirkung der äußeren Gegenstände auf sie, vorher zu sehen, die daher entstehenden Empfindungen, die Entschliessungen, jede Triebfeder, woraus die Handlungen entstehen, genau zu erkennen. Sie sind eigentliche Abbildungen der Seelen, die wahren Gegenstände, davon die gemalten Portraite nur die Schattenbilder sind. Der Dichter, der die Gabe hat, die sittlichen Charaktere richtig und lebhaft zu zeichnen, lehrt uns die Menschen recht kennen und führt uns dadurch auch zu der Kenntnis unser selbst. Aber noch wichtiger ist die Wirkung, welche wohl gezeichnete Charaktere auf unsere Seelenkräfte haben. Denn, wie wir uns mit den Traurigen betrüben, so geschieht eine solche Zueignung aller anderen Empfindungen, wenn sie lebhaft geschildert sind.1 Jede lebhafte Vorstellung von dem Gemütszustand anderer Menschen, lässt uns das, was in ihnen vorgeht, eben so fühlen als wenn es in uns selbst vorginge; dadurch werden die Gedanken und Empfindungen anderer Menschen einigermassen Modificationen unserer Seele, wir werden heftig mit dem Achilles, vorsichtig mit dem Ulysses und unerschroken mit dem Hektor.

  Also können die Dichter durch die Charaktere der Personen, mit ungemeiner Kraft auf die Gemüter wirken. Diejenigen, die wir für gut halten, haben den stärksten Reiz auf uns; wir nehmen alle Kräfte zusammen, um eben so zu empfinden, wie die Personen, für deren Charakter wir eingenommen sind. Diejenigen, die uns mißfallen, erwecken den lebhaften Abscheu, weil eben dadurch, dass wir gleichsam gezwungen werden, die Empfindungen derselben auch in uns zu fühlen, der innere Streit in dem Gemüte entsteht.

 Die vornehmste Sorge des epischen und dramatischen Dichters, muss also auf die Charactere der Personen gerichtet sein. Deswegen können nur große Kenner der Menschen sich an diese Gattungen wagen. Der epische Dichter hat wegen der Menge und Verschiedenheit der Begebenheiten, Vorfälle und Personen, die seine weitläufige Handlung ihm an die Hand gibt, Gelegenheit, die persönlichen Charaktere seiner Hauptpersonen ganz zu entwickeln; der dramatische Dichter hingegen, dessen Handlung nur auf einen sehr bestimmten Gegenstand eingeschränkt ist, hat vornehmlich einzelne Züge in den Charakteren der Menschen, Tugenden, Laster, Leidenschaften zu schildern: denn es ist selten möglich, in einer so kurzen Zeit als die ist, auf welche die Handlung des Drama eingeschränkt wird und bei einer einzigen Gelegenheit, den ganzen Charakter des Menschen kennen zu lernen.

 Es gibt Menschen, die in ihren Handlungen und in ihrer Art zu denken, gar keinen bestimmten Charakter zeigen, die einigermassen den Windfahnen gleichen, die für jede Wendung und Stellung gleichgültig sind und sich also nach allen Gegenden gleich herumtreiben lassen. Es scheint als wenn es solchen Menschen an eigener innerlichen Kraft fehlte, aus welcher ihre Gedanken, Entschliessungen und Handlungen entstehen. Sie warten ganz gleichgültig auf das, was geschieht, empfangen davon augenblickliche Eindrücke, die sich sogleich wieder auslöschen, wenn die Ursache derselben zu wirken aufhört. Mechanische Wesen von dieser Art sind für den Dichter unbrauchbar; er sucht diejenigen Menschen aus, in deren Art zu denken, zu empfinden, zu handeln, sich etwas merkwürdiges findet; solche, in denen herrschende Triebe und ein eigentümlicher sich auszeichnender Schwung des Geistes oder des Herzens ist, welche Bestandteile des Charakters sich bei jeder Gelegenheit auf eine ihnen eigene Art äussern.

  Menschen von solchen Charakteren in mancherlei Umstände und Verbindungen gesetzt, sind die Seele derjenigen Werke der Kunst, die Handlungen zum Grund haben, besonders des epischen Gedichts. Dadurch kann eine sehr einfache Handlung interessant werden und einen Reiz bekommen, den bei dem Mangel guter Charakter keine Verwicklung, auch keine Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und Vorfälle ersetzen kann. Die Wahrheit dieser Anmerkung recht zu fühlen, darf man nur die meisten Trauerspiele der Griechen betrachten, die größtenteils bei einer sehr großen Einfalt des Plans durch die Charakter höchst interessant sind. Die ganze Fabel des Prometheus vom Äschylus, kann in wenig Worten ausgedruckt werden und dennoch ist dieses Trauerspiel höchst interessant. Unter den Werken der neueren geben die empfindsamen Reisen des Sterne den deutlichsten Beweis, wie die gemeinesten und alltäglichsten Begebenheiten, durch die Charaktere der Personen im höchsten Grad interessant werden. Wer für Kinder und für schwache Köpfe schreibt, der mag immer sein Werk durch tausend seltsame Begebenheiten und Abenteuere unterhaltend zu machen suchen; aber für Männer müssen die Charakter den vorzüglichsten Teil des Werks ausmachen. Dieses sei auch dem Historienmaler gesagt. Will er nicht bloß dem Pöbel gefallen, so suche er den Wert seines Werks nicht in der Weitläufigkeit seiner Erfindung, nicht in der Menge seiner Figuren und Gruppen, sondern in der Stärke und Mannigfaltigkeit der Charakter. Wem es nicht gegeben ist, die Menschen zu ergründen, eines jeden besonderes Genie, Temperament, seine Gemütskräfte (in dem, was sie eigentümliches haben) genau zu beobachten, auch die besondere Schattierung derselben, die von der Erziehung, von den Sitten der Zeit und anderen besonderen Umständen herkommen, darin zu unterscheiden; dem fehlt die vornehmste Eigenschaft eines epischen und dramatischen Dichters. Dessen Hauptwerk bleibt allemal die Darstellung der Charakter: hat er sich dieser versichert, so ist bald jede Begebenheit gut genug und jede Lage der Sachen bequem sie zu entwickeln; wenigstens ist eine mittelmäßige Einbildungskraft hinreichend, ein Gewebe der Fabel zu erdenken, das zu interessanten Ausserungen der Charakter Gelegenheit gibt.

Jeder Charakter, der wolbestimmt und psychologisch gut, das ist, wahr und in der Natur vorhanden ist, dabei sich von dem alltäglichen auszeichnet, kann von dem Dichter mit Nutzen gebraucht werden. Nur vor willkürlichen, bloß aus der Phantasie zusammengesetzten Charakteren, muss der Dichter sich hüten, weil sie nie interessant sind. Wer seinen Personen gute oder schlechte, hohe oder niedrige Gesinnungen beilegt, so wie es ihm bei den vorfallenden Gelegenheiten einfällt, der hat darum keinen Charakter gezeichnet. Wer den Charakter eines Menschen vollkommen kennte, müsste daraus dessen Empfindung, Handlungen und ganzes Betragen, in jedem bestimmt gegebenen Fall vorhersehen können; denn die Bestandteile des Charakters, wenn man sich so ausdrücken kann, enthalten die Gründe jeder Handlung oder jeder Äusserung der Gemütskräfte. Alle wirksamen Triebe der Seele zusammen genommen, jeder in einem gewissen Maasse, jeder durch das Temperament des Menschen, durch seine Erziehung, durch seine Kenntnis, durch die Sitten seines Standes und der Zeiten modificirt, machen den Charakter des Menschen aus, aus welchem seine Art zu empfinden und zu handeln bestimmt kann erkennt werden. Läßt man die Personen Gesinnungen, Reden oder Handlungen äussern, deren Entstehung aus ihrem Charakter sich nicht begreifen lässt; oder solche, aus denen, wenn der Charakter noch nicht bekannt ist, die Grundtriebe oder die wirklich vorhandenen Ursachen, aus denen sie entstanden sind, sich nicht erkennen lassen, so haben die Personen keinen wirklichen Charakter; ihre Handlungen sind etwas von ungefähr entstandenes. Es hat mit den Gemütskräften eben die Bewandnis, wie mit den Kräften der körperlichen Welt, dass Wirkung und Ursache in dem genauesten Verhältnis der Gleichheit sind. Ein Mensch, der es allezeit mit einer Menge anderer Menschen aufnähme und ganze Heere in die Flucht schlagen würde, könnte uns niemals als ein höchsttapferer Mensch vorgestellt werden; er wäre ein Unding, etwas, das nur in der Phantasie des Dichters entstanden ist. Und wenn man uns in einem Roman einen Menschen abbildete, der überall, wo er hinkommt, königliche Geschenke austeilt, der ganze Familien reich macht, so würde uns dieses gar wenig rühren, da wir die Quelle nicht erkennen, aus welcher aller dieser Reichtum fliesset. So wie wirkliche Wunderwerke am wenigsten wunderbar sind, weil wir von den Kräften, wodurch sie bewirkt werden, gar nichts erkennen, so ist es auch mit jeder Äusserung menschlicher Kräfte, sie seien auf das Gute oder Böse gerichtet, deren Grund und Quelle wir nirgend entdecken können.

 Es ist also eine sehr wesentliche Sache, dass man sich in dem, was handelnden Personen zugeschrieben wird, vor dem willkürlichen, romanhaften und abenteuerlichen in acht nehme; denn diese Sachen sind in keinem Charakter gegründet. Wie der Maler sich lediglich an die Natur halten und z. B. jedem Baume, nicht nur die Art der Blüte oder Frucht zueignen muss, die ihm natürlich ist, sondern sie auch nur an denjenigen Arten der Zweige, an denen sie wirklich wachsen, nicht aber an willkürlichen Stellen, anbringen darf; so muss es auch der Dichter mit jeder Äusserung des Gemüts halten, die eben so natürliche Wirkungen des Charakters sind als Blüten und Früchte, Wirkungen der besonderen Natur eines Baumes.

 Überdem müssen alle Gesinnungen, Reden und Handlungen, die den Personen zugeschrieben werden, nicht nur allgemein wahr sein, sondern nach allen, den Personen eigenen Modifikationen, genau abgemessen werden; denn niemand hat bloß den allgemeinen Charakter seiner Art. Der Dichter muss nicht nach Art derer, die ehemals die Ritterbücher geschrieben haben, arbeiten, wo alle Ritter gleich tapfer sind, sondern so wie Homer, bei welchem die Tapferkeit des Achilles eine andere Tapferkeit ist als die, die man am Hektor oder am Ajax oder am Diomedes sieht. Wie man den Löwen aus einer Klaue erkennt, so muss man aus jeder besonderen Rede einer Person, ihren Charakter erkennen, weil in der Tat jedes, was ihr eigen ist, etwas zu gänzlicher Bestimstimmung derselben beigetragen hat.

 Jeder Charakter aber wird durch dreierlei Gattungen wirkender Ursachen bestimmt. Durch das, was der Nation und dem Zeitalter, darin man lebt, eigen ist; durch den Stand, die Lebensart und das Alter und endlich durch das besondere persönliche jedes Menschen, nämlich sein Genie, sein Temperament, und alles übrige, was ihn zu einer besonderen Person macht. Mithin muss jede Äusserung des Charakters mit allen den wirkenden Ursachen auf denselben genau übereinkommen. Wer also Personen aus einem entfernten Zeitalter, aus einer ganz fremden Nation, zu behandeln hat, dem wird es notwendig sehr viel schwerer eines jeden Charakter zu treffen. Oßian mahlte Personen seiner Zeit, seiner Nation, seines Standes und zum Teil seiner eigenen Familie und fand also in der genauen Bezeichnung derselben die wenigsten Schwierigkeiten. Auch Homer hat seine Personen von einem nicht sehr entfernten Zeitalter und aus einer ihm nicht fremden Nation genommen. In der Äneis ist es schon stark zu merken, dass der Dichter sich nicht ganz in die Zeiten, Sitten und den Stand seiner Personen hat setzen können. Kein Dichter hat darin mehr Behutsamkeit nötig gehabt als der Dichter des Noah, da er seine Handlung aus dem entferntesten Zeitalter und den fremdesten Sitten genommen hat. Dennoch ist er in seinen Charakteren sehr glücklich und auch da, wo er mit gutem Vorbedacht Begebenheiten der späteren Welt in jene entfernte Zeiten hinaufgesetzt,2 hat er ihnen den Anstrich jenes entfernten Weltalters zu geben gewußt. Mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit hat sich Klopstock ganz in die Sitten und Sinnesart der Zeiten setzen können, in welche seine Handlung fällt.

 In großen epischen Handlungen, wo viel merkwürdige Personen vorkommen, muss auch eine große Mannigfaltigkeit der Charakter erscheinen. Diese muss aber nicht bloß in derjenigen Verschiedenheit gesucht werden, die in dem wesentlichen Charakter liegt, wie etwa beim Homer die Charakter des Achilles, des Nestors und des Ulysses sind, da keiner einen Zug mit dem anderen gemein hat; sondern auch einerlei wesentliches muss durch Genie, durch Temperament, durch Alter und andere zufällige Bestimmungen, in den verschiedenen Personen eine angenehme Mannigfaltigkeit erhalten.

 Von denen, die durch die Hauptzüge sich unterscheiden, kann man einen sehr guten Gebrauch machen, wenn man entgegen gesetzte Charakter bei einerlei Vorfälle neben einander stellt, damit sie einen Gegensatz oder Contrast ausmachen; denn dadurch werden sie desto lebhafter bezeichnet. Wenn ein Mann von geradem, offenherzigen und freien Wesen, neben einen zurückhaltenden, ein verwegener und hitziger, neben einem vorsichtigen und bedächtigen Mann erscheint, so werden unstreitig alle Äusserungen des einen, durch das, was man von dem anderen sieht, besser bemerkt werden.

 Eine besonders gute Wirkung kann dadurch erhalten werden, dass unter den handelnden Personen solche sind, die unser Urteil über das Betragen der Hauptpersonen unterstützen oder lenken. Dieses geschieht z. B. wenn bei einer ganz wichtigen Lage der Sachen, wo die handelnden Personen alle in Leidenschaften geraten, auch solche eingeführt werden, die bei etwas kaltem Geblüte bleiben und alles was vorgeht, mit großer Richtigkeit und scharfer Beurteilungskraft einsehen. Denn niemals wirken starke und recht entscheidende Urteile der Vernunft mehr auf uns als wenn wir sie neben hitziger Bewunderung oder lebhafter Verabscheuung sehen. Wenn wir in Shakesspears Richard jedermann in der heftigsten Verabscheuung der wütenden Bosheit dieses Tyrannen sehen, so fehlt es an einem gelassenen Menschen, der durch nachdrückliche Äusserungen überlegter Urteile, den Empfindungen der anderen, noch mehr Kraft auf uns mitteilte.

 Inzwischen muss das, was hier von dem Gegensatz der Charakter und besonders von dem Gegensatz der Leidenschaft und der Vernunft angemerkt wird, nicht so verstanden werden, dass jeder Charakter beständig einen entgegengesetzten, so wie der Körper einen Schatten, neben sich haben soll. Dieses würde zu ge künstelt und zu gezwungen sein. Nicht jeder Charakter darf einen entgegengesetzten neben sich haben und wo man Personen von entgegengesetztem Charakter einführt, dürfen sie eben nicht unzertrennlich beisammen sein. Ein Dichter von gesundem Urteil, wird die Contraste so zu behandeln wissen, dass weder Zwang noch Kunst dabei zu merken sind und dass nur die wichtigsten Eindrücke, die man von den Charakteren zu erwarten hat, in der größten Stärke und im hellesten Licht erscheinen.

 Einer der scharfsinnigsten Kunstrichter unter den Neuern3 will, man soll im Drama den Contrast nicht in den Charakteren unter sich, sondern in dem, entgegengesetzten der Charakter und der Umstände, in welche die Personen versetzt werden, suchen. Er sagt ungemein viel Gutes und Gründliches von der Unschicklichkeit der gegen einander gesetzten Charakter. Im Grund aber scheinen seine Anmerkungen nur den Mißbrauch und das übertriebene in dieser Sache, zu widerraten, worauf auch unsere vorhergehende Anmerkung abzielt. Freilich muss der Dichter die Entwicklung und den Eindruck der Charakter dadurch zu erhalten suchen, dass er dieselben in mancherlei und in einander entgegenstehende Umstände bringt; auch muss er sich hüten, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen Hauptcharakter, durch einen eben so interessanten ihm entgegengesetzten, zu schwächen. Allein dieses hindert ihn keinesweges, einen Hauptcharakter durch einen ihm entgegengesetzten, in ein helleres Licht zu setzen, wenn er nur Verstand genug hat, dieses auf eine gute Art zu tun.

 Einige Kunstrichter haben vollkommen gute Charakter, sowohl für das Drama als für die Epopee als etwas ungereimtes gänzlich verworfen.4 Wenn man eine solche Vollkommenheit versteht, die kein Mensch erreichen kann und die doch einem Menschen zugeschrieben wird, so hat man vollkommen Recht, sie zu verbieten; denn das Gedicht muss nichts unmögliches auch nichts unwahrscheinliches enthalten. Wollte man aber auch nicht haben, dass die höchste menschliche Vollkommenheit, so wie sie zu erreichen möglich ist, einer handelnden Person sollte zugeschrieben werden, so würde man schwerlich einen guten Grund für ein solches Verbot anführen können. Die Furcht, dass ein solcher Charakter nicht interessant genug sei, weil die Leidenschaften dabei zu wenig ins Spiel kommen, ist nicht gegründet. Man stelle sich vor, dass ein Dichter den Tod des Sokrates zum Inhalt eines Drama nähme. Um bei der genauen historischen Wahrheit zu bleiben, könnte er dem Sokrates bei dieser Handlung keine menschliche Schwachheit beilegen; denn sein Betragen war in der Tat dabei vollkommen. Wie wenig aber diese Vollkommenheit der Rührung schade, sieht man aus der Art des Drama, das Plato und Xenophon davon gemacht haben. Kein Mensch von Empfindung kann sie ohne die höchste Rührung lesen. Es ist also nicht abzusehen, wie man vorgeben könne, vollkommen tugendhafte Charakter seien nicht interessant genug. Freilich muss man nicht solche Charakter willkürlich zusammen setzen; die Vollkommenheit muss die Wirkung solcher Ursachen sein, die in dem Menschen möglich sind; man muss sehen können, aus was für Grundsätzen, aus was für Gemütskräften sie entstanden ist. Man findet in der Lebensbeschreibung, die Plutarch vom Marcus Antonius gemacht hat, hin und wieder Züge von Großmut und Vernunft, die gar nicht aus dem Charakter des Antonius zu folgen scheinen, so dass man gar nicht weiß, wie sie bei einem solchen Menschen möglich gewesen sind. So wahr sie auch sein mögen, so wäre keinem Dichter zu raten, sie so, wie Plutarchus tut, anzuführen. Man müsste notwendig diesen Mann vorher von einer Seite zeigen, woraus bei seinem schlechten Charakter, die Möglichkeit solcher einzeln großen Züge deutlich erkennt würde. Eben so müsste ein Dichter, der einen vollkommenen Charakter vorstellen wollte, die Bestimmung der näheren, nicht bloß metaphysischen, Möglichkeit desselben nicht verabsäumen, sonst würde er keinen Glauben finden und dadurch würde der Charakter uninteressant werden.

 Man sollte denken, dass die Epopee und das Drama bloß deswegen ausgedacht worden, damit man Gelegenheit habe, die Charakter der Menschen in ein völliges Licht zu setzen. Wenigstens scheint es nicht möglich, zu dieser Absicht etwas bequemeres zu erfinden. Die Geschichtschreiber haben hierzu bei weitem die Bequemlichkeit nicht, die die Dichter haben; denn es schickt sich für sie nicht, ihren Lesern jeden besonderen Umstand der Geschichte so abzumalen als ob sie alles mit Augen sähen und jede Rede selbst anhörten; dieses ist den Dichtern eigen. Vorzüglich aber ist die Epopöe zu völliger Entwicklung der Charakter dienlich; denn das Drama leidet die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und Vorfälle nicht, die bei ihr statt haben; die Personen des Drama werden nicht so, wie in der Epopöe Per varios casus, per tot discrimina rerum ans Ende der Handlung gebracht.

  Daher sieht man in Drama nicht sowohl den ganzen Charakter einer Person als besondere Züge desselben, besondere Leidenschaften oder Gesinnungen entwickelt. Der epische Dichter hingegen hat Gelegenheit uns seine Hauptpersonen völlig und nach allen Teilen ihres Charakters bekannt zu machen. Es gibt aber zwei Wege die Charakter zu bezeichnen. Der eine ist unmittelbar die wirkliche Abbildung derselben, so wie der Geschichtschreiber Sallustius es getan hat; der andere ist mittelbar durch die Handlungen, Reden, Stellung, Gebärden, so wie dieselben bei jeder Gelegenheit sich äussern. Dieser Weg ist dem Dichter eigen und dem ersten weit vorzuziehen. Der erste gibt uns eine abstrakte Beschreibung von einer Sache, die wir selbst nicht sehen; der andere aber stellt uns die Sache selbst nach allen ihren besonderen Bestimmungen vor Augen, und dadurch empfinden wir wirklich, was wir auf die andere Art durch den Verstand uns vorstellen. Wir lernen dadurch die Menschen so kennen als wenn wir wirklich mit ihnen gelebt hätten.

  Es erhellt hieraus, dass der wichtigste Teil der Kunst des epischen und des dramatischen Dichters der ist, dass sie Begebenheiten, Vorfälle und Situationen erfinden, bei denen die handelnden Personen ihren Gemütszustand und jede Triebfeder ihrer Seelen entwickeln.

  Also ist auch nur dem epischen Dichter vergönnet, den ganzen Charakter der Personen zu entfalten. Man ist durchgehends darüber einig, dass in diesem Teile der Kunst dem Homer noch niemand gleich gekommen ist. Es ist auch zu vermuten, dass kein Dichter neuerer Zeiten, wenn er auch dem Homer an Genie gleich wäre, hierin eben so glücklich, wie er, sein könnte. Zu den Zeiten des Vaters der Dichter handel ten die Menschen noch freier und äusserten jeden Gedanken und jede Empfindung ungehinderter als es gegenwärtig geschieht. Wir fühlen nicht nur mancherlei Arten von Banden, die eine völlige und ganz freie Entwicklung der Triebfeder des Geistes hemmen, wir liegen auch noch unter dem Druck der Mode und bilden uns ein, dass wir so handeln, so reden, uns so stellen müssen, wie gewisse andere Menschen, die gleichsam den Ton angeben, nach dem sich alle andere richten müssen. Man sieht überaus wenig freie Menschen, die bloß nach ihren eigenen Empfindungen handeln und sich unterstehen, keine andere Richtschnur als ihre Einsichten und ihre Gefühl anzunehmen. Bei einem von allen Seiten her so sehr eingeschränkten Wesen, ist es höchst schwer den natürlichen Menschen kennen zu lernen und zu sehen, wie weit seine Kräfte reichen.

 Diese Schwierigkeit müssen besonders auch die Maler und Bildhauer empfinden, die ebenfalls nötig haben Charakter zu bezeichnen. Es wird ihnen ungemein schwer die Natur zu beobachten, die aus dem ansehnlichsten Teil der menschlichen Gesellschaft als etwas unschickliches verbannt ist, wo der Traurige sich zwingen muss die Mine des Vergnügten anzunehmen und wo es nicht erlaubt ist, das, was man innerlich fühlt, auch äußerlich zu zeigen. In dem ehmahligen Griechenland, wo jeder Bürger die Freiheit nahm, sich gerade so zu zeigen, wie er war und keinen anderen Menschen für sein Muster hielt, war es dem Zeichner leicht, jede Empfindung in den Gesichtern der Menschen und in ihren Gebärden zu sehen. Daher kommt es ohne Zweifel und nicht von einem geringern Maße des Genies, dass die zeichnenden Künste unter den Händen der Neuern, die Vollkommenheit des Ausdrucks nicht mehr haben, die man an den Alten bewundert. Auch ist ohne Zweifel darin die Ursache zu suchen, warum man auf der deutschen und französischen Schaubühne so wenig Originelles, sowohl in den Charakteren als in der Art, wie sie vorgestellt werden, antrift. Dass dieses auf der englischen Schaubühne weniger selten ist, rührt daher, dass die Britten in der Tat in ihrem ganzen Leben sich weniger Zwang antun als die meisten anderen Nationen und dass sie weniger Ehrfurcht für das Gewöhnliche und Übliche haben als andere.

 

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1 S. Teilnehmung.

2 S. Wielands Abhandlung über den Noah S. 15.

3 Diderot. de la poesie dramatique.

4 Shafftesbury's characteristicks Tom. III. S. 260. u. s. f. Briefe über die neueste Literatur VII. Teil S. 117. f. f.

 


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