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II. [Steigerung der Kultur der Dinge, Zurückbleiben der Kultur der Personen]

 

Freilich ist in der Entwicklung des einzelnen Lebensinhaltes die Grenze, an der seine Naturform in seine Kulturform übergeht, eine fließende und es wird sich über sie keine Einstimmigkeit erzielen lassen. Es meldet sich damit aber nur eine der allgemeinsten Schwierigkeiten des Denkens. Die Kategorien, unter die die einzelnen Erscheinungen gebracht werden, um damit der Erkenntnis, ihren Normen und Zusammenhängen, anzugehören, sind mit Entschiedenheit gegeneinander abgegrenzt, geben sich oft erst an diesem Gegensatz wechselseitig ihren Sinn, bilden Reihen mit diskontinuierlichen Stufen. Die Einzelheiten aber, deren Rangierung unter diese Begriffe gefordert wird, pflegen ihre Stellen hier durchaus nicht mit der entsprechenden Eindeutigkeit zu finden; vielmehr sind es oft quantitative Bestimmungen an ihnen, die über die Zugehörigkeit zu dem einen oder zu dem anderen Begriff entscheiden, so daß angesichts der Kontinuität alles Quantitativen, der immer möglichen Mitte zwischen zwei Maßen, deren jedes einer entschiedenen Kategorie entspricht, die singuläre Erscheinung bald der einen, bald der anderen zugeteilt werden kann, und so als eine Unbestimmtheit zwischen ihnen, ja als eine Mischung von Begriffen erscheint, die ihrem eigenen Sinn nach sich gegenseitig ausschließen. Die prinzipielle Sicherheit der Abgrenzung zwischen Natur und Kultur, mit der die eine gerade da beginnt, wo die andere aufhört, leidet also unter der Unsicherheit über die Einordnung der Einzelerscheinung so wenig, wie die Begriffe des Tages und der Nacht darum ineinander verschwimmen, weil man eine Dämmerstunde bald dem einen, bald der anderen zurechnen mag. Dieser Erörterung des allgemeinen Kulturbegriffs stelle ich nun ein besonderes Verhältnis innerhalb der gegenwärtigen Kultur gegenüber. Vergleicht man dieselbe etwa mit der Zeit vor hundert Jahren, so kann man - viele individuelle Ausnahmen vorbehalten - doch wohl sagen: die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst - sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen. Dies ist ein kaum eines Einzelbeweises bedürftiges Verhältnis. Ich hebe darum nur weniges hervor. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten haben sich, im Deutschen wie im Französischen, seit hundert Jahren außerordentlich bereichert und nuanciert; nicht nur die Sprache Goethes ist uns geschenkt, sondern es ist noch eine große Anzahl von Feinheiten, Abtönungen, Individualisierungen des Ausdrucks hinzugekommen. Dennoch, wenn man das Sprechen und Schreiben der Einzelnen betrachtet, so wird es als ganzes immer inkorrekter, würdeloser und trivialer. Und inhaltlich: der Gesichtskreis, aus dem die Konversation ihre Gegenstände schöpft, hat sich objektiv, durch die vorgeschrittene Theorie und Praxis, in derselben Zeit erheblich erweitert; und doch scheint es, als ob die Unterhaltung, die gesellschaftliche wie auch die intimere und briefliche, jetzt viel flacher, uninteressanter und weniger ernsthaft wäre als am Ende des 18. Jahrhunderts. In diese Kategorie gehört es, daß die Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter. Wieviele Arbeiter, sogar unterhalb der eigentlichen Großindustrie, können heute die Maschine, an der sie zu tun haben, d.h. den in der Maschine investierten Geist verstehen? Nicht anders liegt es in der militärischen Kultur. Was der einzelne Soldat zu leisten hat, ist im wesentlichen seit lange unverändert geblieben, ja, in manchem durch die moderne Art der Kriegführung herabgesetzt. Dagegen sind nicht nur die materiellen Werkzeuge derselben, sondern vor allem die jenseits aller Individuen stehende Organisation des Heeres unerhört verfeinert und zu einem wahren Triumph objektiver Kultur geworden. Und auf das Gebiet des rein Geistigen hinsehend - so operieren auch die kenntnisreichsten und nachdenkendsten Menschen mit einer immer wachsenden Zahl von Vorstellungen, Begriffen, Sätzen, deren genauen Sinn und Inhalt sie nur ganz unvollständig kennen. Die ungeheure Ausdehnung des objektiv vorliegenden Wissensstoffes gestattet, ja erzwingt den Gebrauch von Ausdrücken, die eigentlich wie verschlossene Gefäße von Hand zu Hand gehen, ohne daß der tatsächlich darin verdichtete Gedankengehalt sich für den einzelnen Gebraucher entfaltete. Wie unser äußeres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeß aufgewandten Geist wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Verkehrsleben - was ich oben schon in anderem Zusammenhang hervorhob - von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist - während der individuelle Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt. Gewissermaßen faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen, also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19. Jahrhundert durch den Begriff der »Bildung« im Sinn einer Summe objektiver Kenntnisse und Verhaltungsweisen verdrängt wurde. Diese Diskrepanz scheint sich stetig zu erweitern. Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formel und Inhalte seiner Bildung erweitern.

 


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