Chromatik und Enharmonik


Im hellenischen Tonsystem der klassischen Zeit war die Quart bekanntlich neben der pythagoreisch distanzmäßig vollzogenen diatonischen Teilung auch noch erstens in kleine Terz und zwei Halbtöne (chromatisch) und zweitens in große Terz und zwei Vierteltöne (enharmonisch) geteilt, in beiden Fällen also unter Ausschaltung des Ganztons. Daß es sich in diesen Fällen um die Einschiebung von wirklichen Terzen gehandelt habe, so daß die beiden kleinen Tonschritte als Rest übriggeblieben wären, ist höchst unwahrscheinlich, obwohl allerdings gerade diese beiden Tongeschlechter den Anlaß für die erstmals harmonisch korrekte Berechnung der großen Terz durch Archytas und der kleinen Terz durch Eratosthenes abgaben. Es scheint vielmehr, daß man gerade umgekehrt das »Pyknon«: die Chromatik und Enharmonik als melodische Ausdrucksmittel suchte. Das teilweise erhaltene Stasimon aus dem Orestes des Euripides, welches anscheinend enharmonische Pykna enthält, gehört in dochmischen Versen zu den leidenschaftlichst bewegten Strophen des Stücks, und sowohl Platons spöttische Bemerkungen in der Politeia, wie umgekehrt diejenigen des Plutarch, wie endlich die ganz späten aus byzantinischer Zeit beweisen, daß es sich bei der Enharmonik um melodisches Raffinement handelte. Bei der traditionell feststehenden (und als heilig geltenden) Siebenstufigkeit der Oktave behielt die Theorie dann nur einen übermäßigen Tonschritt in der Quarte übrig. In die praktische Musik ist die chromatische und weiterhin die enharmonische Skala zuerst höchstwahrscheinlich durch den Aulos gelangt, welcher irrationale Abweichungen von den rationalen Intervallen gab, die noch Aristoxenos aufzählt. Dadurch, daß ein in Bosnien gefundenes, dem Aulos ähnliches Instrument die »chromatische« Skala der Hellenen ergibt und das gleiche auch für balearische Instrumente zutreffen soll, wird diese der Überlieferung entsprechende Annahme noch weiter gestützt. Da bei dem Aulos die chromatische Tonbildung und ebenso die Korrektur von irrationalen Intervallen durch teilweisen Verschluß der Löcher erfolgte – wie in allen alten Musiken, welche die Flöte kannten –, so war die Erzeugung beliebiger Schleiftöne und Zwischen- und Teilintervalle hier sehr naheliegend. Indem man eben diese Intervalle von der Flöte auf die Kithara übernahm, suchte man sie zu rationalisieren, und es entstand die von späteren Theoretikern immer weiter ausgesponnene Kontroverse über die Art der Vierteloder Drittelton-Intervalle. Wie dem sei, jedenfalls handelt es sich dabei um ein Intervallsystem, welches nicht primitiv war, sondern, umgekehrt, der hellenischen Kunstmusik angehörte. Nach den Papyrusfunden war es den Aitolern und ähnlichen kulturlosen Stämmen fremd, und auch die Tradition hält die Chromatik für jünger als die Diatonik und die Vierteltons-Enharmonik für die jüngste, speziell der klassischen und nachklassischen Zeit zugehörige Erscheinung, welche einerseits von den beiden älteren Tragikern noch abgelehnt, andererseits wieder schon in Plutarchs Zeit (zu dessen Bedauern) im Verfall war. Sowohl die chromatische wie die enharmonische Tonfolge haben »tonal« natürlich mit unserem harmonisch bedingten Begriff von »Chromatik« nichts zu schaffen. Dies, obwohl die Entstehung der chromatischen Tonalterationen und ihre Rezeption und harmonische Legitimierung im Okzident historisch auf ganz die gleichen Bedürfnisse zurückgehen wie die Pykna der Hellenen: zuerst nach melodiöser Erweichung der Härte der reinen Diatonik der Kirchentöne, dann – im 16. Jahrhundert, welches die Mehrzahl unserer chromatischen Töne legitimierte – nach dramatischer Darstellung der Leidenschaften. Daß die gleichen Ausdrucksbedürfnisse dort zu einer Zersetzung der Tonalität, hier (obwohl die Theorie der Renaissance die Chromatik als eine Wiederauferstehung der antiken Tongeschlechter anzusehen und zu erstreben geneigt war) zur Schaffung der modernen Tonalität führten, lag in der sehr abweichenden Struktur derjenigen Musik, in welche jene Tonbildungen im einen und im anderen Fall eingebettet wurden. Die neuen chromatischen Spalttöne wurden in der Renaissancezeit als Terzen- und Quinten-bestimmte harmonisch gebildet. Die hellenischen Spalttöne dagegen sind Produkte einer rein distanzmäßigen, der exklusiven Pflege melodischer Interessen entsprungenen Tonbildung. Jedenfalls handelt es sich aber bei den hellenischen Viertelton-Intervallen um Intervalle, welche der realen Musik angehört haben, im Spätaltertum (nach Bemerkungen des Bryennios über die Analysis organica) offenbar den Saiteninstrumenten, und die dem Orient noch angehören – sei es auch wesentlich (oder originär) als »Schleiftöne«. Neben diesen vielbesprochenen hellenischen Vierteltönen haben namentlich die arabischen »Dritteltöne«, 17 auf jede Oktave, seit den Arbeiten von Villoteau und Kiesewetter eine höchst mißverständliche Rolle in der Musikgeschichte gespielt. In Anlehnung an die neueren Analysen der arabischen Musiktheorie von Collangettes hätte man sich ihre Entstehung wohl folgendermaßen vorzustellen: die Skala vor dem 10. Jahrhundert bestand nach Collangettes' Annahme aus 9 (mit Einschluß der Oberoktave des Anfangstons: 10) Tönen in der Oktave, z.B. c, d, es, e, f, g, as, a, b, c´, aufgefaßt als zwei durch den Ton f verbundene Quarten, neben denen ein diazeuktischer Tonschritt (b–c) stand. Diese rein pythagoreisch gestimmte Oktaveneinteilung geht sicherlich auf hellenischen Einfluß zurück, nur daß sie die Quart außer durch Tonos und Ditonus von unten auch noch durch den Tonos von oben teilte. Die altarabischen Instrumente, vor allem, die von dem, allen Nomaden eigenen Dudelsack stammenden, haben sich dieser Skala vermutlich nie glatt gefügt; denn das Streben der Folgezeit ging durchweg dahin, neben der pythagoreischen noch eine weitere Terz zu besitzen, und auf der anderen Seite hat der Rationalismus der von der mathematischen Theorie herkommenden Musikreformatoren unausgesetzt und in den verschiedensten Formen an der Ausgleichung der aus der Unsymmetrie der Oktave folgenden Unstimmigkeiten gearbeitet. Auf die Produkte dieser letzteren kommen wir erst später zu sprechen, hier nur kurz von den ersteren. Trägerin der extensiven und intensiven Entwicklung der Skala war die Laute (das Wort ist arabisch), welche im Mittelalter das für die Festlegung der Intervalle entscheidende Instrument der Araber wurde, ebenso wie dies die Kithara bei den Hellenen, das Monochord im Okzident, die Bambusflöte in China war. Die Laute hatte nach der Überlieferung zuerst 4, dann 5 Saiten, jede eine Quart höher als die vorige gestimmt, jede eine Quart umfassend und zwischen den Grenztönen der Quart bei pythagoreischer Stimmung jede geteilt durch 3 rational gewonnene Zwischentöne: Ganzton von oben und unten und Ditonus von unten (also z.B.: c, d, es, e, f, in pythagoreischer Bestimmung). Vermutlich wurde ein Teil dieser Intervalle aufsteigend wie andere absteigend gebraucht. Dies ergab, wenn nun die Theorie alle Töne in die gleiche Oktave einordnete, für diese die 12 pythagoreisch determinierten chromatischen Töne. Nachdem aber das mittelste Intervall (es) durch die Perser einerseits, den Musikreformator Zalzal andererseits eine zwiefach verschiedene irrationale Bestimmung erhalten hatte und nun von diesen irrationalen Intervallen im Kampf miteinander sich neben dem diatonischen Intervall zunächst eins auf der Laute behauptete, bedeutete das in jeder der 5 Quarten die Existenz eines Intervalls mehr, gäbe also, in die gleiche Oktave eingeordnet, in dieser in der Tat eine Vermehrung der chromatischen Töne von 12 auf 17. In der praktischen Einteilung der Lautenbünde scheint man zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert die pythagoreischen und die beiden Arten irrationaler Intervalle promiscue gebraucht zu haben, und in der Oktavenskala ordnete man sie so ein, daß zwischen es – e, as – a die beiden irrationalen Terzen, zwischen c – d und f – g aber, wie wir sagen würden, als »Leittöne« zu den Untergrenztönen, ein pythagoreisches Leimma (Ditonus von den Obergrenztönen f bzw. b aus gerechnet) und außerdem je eine in ganz irrationalen Intervallen bestimmte Halbtondistanz, welche je mit einer der beiden irrationalen Terzen korrespondierte, zusammen also je 3 Intervalle aufgenommen wurden, so daß in der Quart c – f die Skala entstand: c, pythagoreisch cis, persisch cis, Zalzalsches cis, d, pythagoreisch es, persisch e, Zalzalsches e, pythagoreisch e, f und entsprechend in der Quart f – b, – wovon natürlich stets nur eine der drei Kategorien von Intervallen in einer Melodie vorkommen konnte. Im 13. Jahrhundert hat man es dann auf Brüche und Potenzierung der Zahlen 2 und 3 gebracht und durch den Quintenzirkel bestimmt, so daß jede der beiden Quarten die Sekunde und den Ditonus von oben und unten (die obere außerdem die Sekunde von unten) und daneben zwei im Sekundenabstand voneinander stehende Töne enthielt, deren unterer um zwei Leimmata von dem Untergrenzton abstand, so daß der obere um die Distanz der Apotome (gleich Grenzton minus Leimma) abzüglich des Leimma vom oberen Ganzton abstand, also z.B. pythagoreisch ges, pythagoreisch ges plus Leimma g, pythagoreisch as, pythagoreisch as plus Leimma a, pythagoreisch a, b. Die moderne syrisch-arabische Rechnung endlich (M. Meschaka), welche 24 Vierteltöne in der Oktave unterscheidet, teilt, wenn daraus die in der Musik wichtigsten Intervalle herausgehoben werden, in Wahrheit jede der beiden durch sie verbundenen Quarten durch einen Ganztonschritt (8/9), den sie = vier »Vierteltönen«, und zwei verschiedene »Dreiviertelton-Schritte«: 11/12 und 81/88, die sie beide = drei »Vierteltönen« setzt. Diese in der praktischen Musik am häufigsten verwendeten sieben Intervalle würden also die Sekunde, die alte Zalzalsche Terz (8/9 × 11/12 = 22/27), die Quart, die Quint, die Zalzalsche Sext (= einer Quart über der Zalzalschen Terz), die kleine Septime als Schlußton der oberen Quart darstellen, so daß von dort der diazeuktische Ganztonschritt zur Oberoktave bliebe. Jedenfalls aber handelt es sich in diesen Fällen bei den »Viertel«- oder »Drittel«tönen um Intervalle, zwar nicht harmonischen Ursprungs, die aber andererseits dennoch unter sich nicht – wie wir dies später bei den »temperierten« Distanzen kennen lernen werden – wirklich »gleich« groß sind, obwohl die Theorie die Neigung zeigt, sie als eine Art distanzmäßigen Generalnenners und als das musikalische »Atom« sozusagen des »eben noch Hörbaren«, über welches Platon spottet, anzusehen. Das gleiche gilt für die Sruti-Rechnung der indischen Kunstmusik mit 22 angeblich »gleichen« Tonstufen auf die Oktave, wobei aber der große Ganzton = 4, der kleine = 3, der Halbton = 2 Sruti gesetzt wird. Auch diese Kleinintervalle sind ein Produkt der unermeßlichen Fülle untereinander verschiedener melodischer Distanzen, welche die lokale Differenzierung der Skalen ergeben hatte. Die chinesische Einteilung der Oktave in 12 Lü, welche als gleich gedacht, aber nicht wirklich so behandelt werden, bedeutet nur die unexakte theoretische Interpretation der praktisch verwendeten diatonischen, nach dem Quintenzirkel gebildeten Intervalle. Auch sie ist historisch vielleicht das Produkt des Nebeneinanders von rational und – wie das King – irrational gestimmten Instrumenten. Der Gedanke, das Tonmaterial auf kleinste, gleich große Distanzen zurückzuführen, liegt aber – wie wir später noch sehen werden – allerdings dem rein melodischen Charakter von Musiken nahe, welche die Akkordharmonik nicht kennen und denen daher auch in der Art der Abmessung ihrer Intervalle und deren Teilung nach unten zu keine prinzipiellen Schranken gesetzt sind. Denn überall ringen in der nicht akkordlich rationalisierten Musik irgendwie das melodische Distanz- und das harmonische Teilungsprinzip miteinander. Und nur die Quinten und Quarten und ihre Differenz, die Ganztöne, sind reine Erzeugnisse des letzteren, nicht dagegen die Terzen, welche vielmehr fast überall zunächst als melodisches Distanzintervall auftreten. Zeuge dessen ist sowohl der alte arabische »Tanbur« von Khorasan, der in Anfangston, Sekunde, Quart, Quint, Oktave, None gestimmt war, wie die nach der Überlieferung in Anfangston, Quart, Quint, Oktave gestimmte Kithara der Hellenen und die Bezeichnung der Quint und Quart als »große und kleine« Distanz schlechthin in China. Soweit bekannt, ist überall, wo die Quint und Quart auftreten und nicht besondere Alterationen des Tonsystems eingetreten sind, auch die große Sekunde als vorherrschende melodische Distanz verwendet, deren sehr universelle Bedeutung daher überall auf jener harmonischen Provenienz – die freilich etwas anderes ist als eine Helmholtzsche Tonverwandtschaft – beruht. Jedenfalls hat sie, allgemein gesprochen, die Priorität vor der harmonischen Terz. Der Ditonus, die melodische Terzdistanz, ist keineswegs einfach »Unnatur«. Es scheint ausnahmsweise Fälle zu geben, wo auch heute noch, in rein melodisch bedingter Lage, der Solist aus dem harmonischen Terzschritt in den distanzmäßigen pythagoreischen Ditonus fällt. Und daß die Terz im hellenischen Altertum, trotz ihrer harmonisch richtigen Berechnung, schon durch Archytas (also zu Platons Zeit) später durch Didymos (der auch die beiden Ganztonschritte richtig unterschied) und Ptolemäos dennoch nicht die im Sinn der Harmonik revolutionierende Rolle gespielt hat, wie in der Musikentwicklung des Okzidents, sondern – etwa analog der Entdeckung des geozentrischen Systems oder der technischen Qualitäten der Dampfkraft – Eigentum der Theoretiker blieb, hat ebenfalls in dem, gänzlich auf die Tondistanzen und melodischen Intervallfolgen ausgerichteten Charakter der antiken Musik, welche in der Praxis die Terz als Ditonus erscheinen ließ, seinen Grund.

Die Tendenz zur Gleichheit der Distanzen war überall in starkem – wenn auch gewiß nicht ausschließlichem – Maße durch die Interessen der Transponierbarkeit der Melodien mitbestimmt. Es finden sich in den erhaltenen hellenischen Melodiefragmenten, wenigstens im zweiten Apollon- Hymnus von Delphi, Spuren davon, daß auch die hellenische Musik gelegentlich von dem Mittel der Wiederholung einer Tonphrase in anderer Tonlage Gebrauch machte, und für diesen Zweck mußten die Ganztonschritte für ein melodisch so feines Gehör wie das hellenische gleich groß sein. (Es ist daher auch kein Zufall, daß die harmonisch »richtige« Terzenberechnung nicht an der diatonischen, sondern an der enharmonischen und chromatischen Skala zuerst vorgenommen wurde, bei welcher der Ditonus ausgeschaltet war.) Ganz dasselbe Gleichheitsbedürfnis bestand ja für das frühere Mittelalter, wo schon, um die Mutation in eine höhere oder tiefere Hexachord-Distanzskala (ut – re – mi – fa – sol – la gleich der Distanzskala c – d – e – f – g – a) bei Überschreitung des Hexachord-Ambitus vornehmen zu können, die Schritte ut – re, re – mi, fa – sol, sol – la (c – d, d – e, f – g, g – a) als unter sich gleiche Ganztondistanzen mußten angesehen werden können. Eben darauf beruht es, daß die Antike die Terz als ditonische Distanz deutete: – weil dadurch die Zahl der gleichen Distanzen innerhalb der diatonischen Tonfolge auf das Optimum: 6 Quinten, 6 (und nach Rezeption der chromatischen Saite: 7) Quarten, 5 Ganztonschritte, 3 ditonische und 3 Anderthalb- Tonschnitte gebracht wurde. Und auch gewisse später zu erwähnende Experimente mit der durch die irrationalen Terzen in schwerer Verwirrung befindlichen arabischen Skala lassen ähnliche Motive als mitwirkend erkennen.


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