Polyphonie


Wir nennen hier eine Musik nur dann »mehrstimmig«, auch im weitesten Sinn, wenn die mehreren Stimmen nicht ausschließlich im Einklang oder in der Oktave miteinander gehen. Den Einklang von Instrumenten und Singstimmen kennen fast alle Musiken und kannte auch die Antike. Ebenso ist die Begleitung von Stimmen in Oktaven (Männer- und Knaben- oder Frauenstimmen) naturgemäß eine sehr allgemein verbreitete, auch der Antike vertraute Erscheinung. Aber die Oktave wird, scheint es, überall, wo sie auftritt, als »Identität auf anderer Stufe« empfunden. – In jenem weitesten Sinn nun kann die mehrstimmige Musik typisch verschiedene Charaktere annehmen, zwischen denen es natürlich alle Arten von Übergängen gibt, die aber in ihren reinen Grenzfällen sehr scharf geschieden sind und auch historisch auf verschiedene Wurzeln schon in sehr primitiven Musiken zurückgehen.

Zunächst: die moderne, akkordharmonische »Mehrtönigkeit«, wie man, streng genommen, statt »Mehrstimmigkeit« sagen müßte. Denn Akkordfortschreitungen sind ja an sich keineswegs notwendigerweise als eine Mehrheit von auseinanderzuhaltenden »Stimmen« aufzufassen, die miteinander fortschreiten. Sie enthalten im Gegenteil nicht einmal notwendig ein »melodisches« Fortschreiten auch nur einer Einzelstimme in sich. Das Fehlen aller und jeder Melodik im üblichen Sinn ist nun freilich ein Grenzfall. Er, und was ihm musikalisch nahe liegt, hat in der Musik der nicht okzidentalen Völker und in der Vergangenheit, vor dem 18. Jahrhundert, keinerlei Analogien. Die Nationen des Orients und des fernen Ostens, und gerade solche mit entwickelter Kunstmusik, kennen zwar den Zusammenklang mehrerer Töne. Und wie schon früher erwähnt: es scheint, daß wenigstens der Dur-Dreiklang auch von Völkern, deren Musik jeder Tonalität unserer Art entbehrt oder, wie bei den Siamesen, auf völlig anderer Grundlage ruht, meist als »schön« akzeptiert wird. Aber sie interpretieren den Akkord nicht nur nicht in harmonischem Sinn, auch genießen sie ihn nicht als Akkord in unserer Art, sondern als eine Kombination von Intervallen, die sie als einzelne hören wollen und daher am liebsten »arpeggierend« anschlagen, also wie er auf der Harfe (Arpa) und den alten gerissenen Saiteninstrumenten ganz von selbst entstand. In dieser Form ist der Akkord wohl bei allen Völkern mit mehrsaitigen Instrumenten uralt; aber noch bei der Verbesserung des Klaviers im 18. Jahrhundert war gerade die Klangschönheit der von der Laute her gewohnten arpeggierenden Akkorde einer der Effekte, die man suchte und würdigte. Folgen von Harfen-Zwei- und Dreiklängen zwischen den abwechselnden Solo- und Chorpartien finden sich aber z.B. schon in den von P. H. Trilles aufgenommenen, sehr anziehenden halbdramatischen Legenden-Rezitationen von Bantu-Negern, ohne daß freilich die (sehr einfachen) Akkordfolgen mit unseren harmonischen Fortschreitungen etwas zu tun hätten. In der Mehrzahl der Fälle laufen sie wieder in dem Einklang zusammen, oder wenn nicht, so schließen sie unter Umständen auch in starken Dissonanzen (Tritonus z.B., wenn die Wiedergabe exakt ist). Die Klangfülle ist das wesentlich Erstrebte. Ein entgegengesetzter Grenzfall wird durch diejenige Mehrstimmigkeit dargestellt, welche technisch »Polyphonie« genannt wird und ihren konsequenten Typus in der »Kontrapunktik« gefunden hat: mehrere untereinander als völlig gleichberechtigt behandelte Stimmen laufen nebeneinander her und sind harmonisch aneinander gebunden, derart, daß jede Fortschreitung der einen auf die der anderen Rücksicht nimmt und dadurch bestimmten Regeln unterworfen ist. Diese Regeln sind in der modernen Polyphonie teils einfach diejenigen der Akkordharmonik, teils folgen sie aus (möglichst allgemein gesagt) dem künstlerischen Zweck: ein solches Fortschreiten der Stimmen herbeizuführen, daß alle einzelnen selbständig zu ihrem melodischen Recht kommen, dennoch aber und womöglich gerade dadurch das Ensemble als solches strenge musikalische (tonale) Einheitlichkeit wahrt. Während also die reine Akkordharmonik musikalisch »zweidimensional« denkt – vertikal zu den Notenlinien und zugleich horizontal ihnen entlang –, denkt die Kontrapunktik in erster Linie »eindimensional« in horizontaler Richtung und erst dann und nur insofern auch vertikal, als die bei ihr nicht aus einheitlich akkordharmonisch konstruierten Gebilden heraus geborenen, sondern gewissermaßen zufällig aus dem Fortschreiten der mehreren selbständigen Stimmen entstehenden Zusammenklänge der harmonischen Regulierung bedürfen. Der Gegensatz erscheint relativ und ist es in weitem Umfang. Wie schroff er aber empfunden werden kann, beweist wohl mehr, als das zornige Kämpfen des italienischen Musikempfindens der Spätrenaissance gegen die »Barbarei« des Kontrapunkts zugunsten der harmonisch-homophonen Musik, die Stellungnahme noch von Kontrapunktikern wie Grell (Direktor der Berliner Singakademie), der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts posthum sein Verdammungsurteil gegen alle Neuerungen der Musik seit J. S. Bach schleuderte, und gelegentlich auch seines Schülers Bellermann, auf der anderen Seite aber die notorische Schwierigkeit für das moderne, an Akkorden orientierte Empfinden – auch und gerade von schaffenden Künstlern –, Palestrina und Bach dem musikalischen Sinne nach so zu interpretieren, wie sie selbst und ihre Zeit es taten. Die Polyphonie in diesem Sinne, speziell die Kontrapunktik, ist dem Abendland in bewußt hochentwickelter Form trotz aller Vorstufen erst seit dem 15. Jahrhundert bekannt und fand in Bach ihren höchsten Vollender. Keine andere Epoche und Kultur kennt sie, auch nicht, wie Westphal auf Grund irriger Quelleninterpretation glaubte, die Hellenen, bei denen vielmehr sogar jene Vorstufen dieses Zustandes, die sich bei den verschiedensten Völkern der Erde ganz ähnlich wie im Abendland finden, soviel bisher bekannt, völlig fehlen. Für sie blieb für den Akkord ebenso wie für jede simultane Verwendung der Konsonanzen in der Musik überhaupt das letzte Wort .‘ s.µf...a ..’. e’´.e. .’˜ ..., d.h. sinngemäß – wie eine andere Stelle des Pseudo-Aristoteles ergibt –: Konsonanzenakkorde (die ja vom Stimmen der Instrumente her bekannt waren) sind zwar dem Gehör erfreulich, haben aber gar keine musikalische Bedeutung. Der Satz galt wohlgemerkt für die Kunstmusik. Er beweist natürlich nicht, daß die Hellenen den Akkord überhaupt nicht gekannt hätten, sondern das Gegenteil, welches übrigens auch die Bemerkungen der Theoretiker über die »..a˜ s..« der Töne bei den Konsonanzen im Gegensatz zu den Dissonanzen ergeben. Wenn man vielfach anzunehmen geneigt ist, daß in Hellas vielleicht auch ein mehrstimmiges Singen in der primitiven Form der Konsonanz-Parallelen vorgekommen sei, so ist dies weder sicher zu beweisen, noch zu bestreiten. Aber diese Musik, wenn sie existierte, und ebenso die Verwendung der Akkorde wäre dann eben »Volksmusik« gewesen (von der wir naturgemäß keine Spuren besitzen) und hätte zu jener Art von Kirmes-Belustigung der »Crapule« gehört, über deren musikalische Bedürfnisse sich Aristoteles so von oben herab äußert. –

Es muß noch mit einigen Worten an die Kunstmittel der spezifisch »polyphonen« Mehrstimmigkeit erinnert werden. Die Einheitlichkeit eines im technischen Sinne polyphonen, melodiösen Gebildes ist auf die einfachste Weise gewahrt im »Kanon«: dem einfachen Miteinander des Ablaufs genau des gleichen Motivs auf verschiedenen Tonstufen durch dessen sukzessive, aber vor seinem Abschluß in der einen Stimme eintretende Übernahme durch neue Stimmen – einer Gesangsweise, welche in der schlichten Volksmusik ebenso wie als Kunstprodukt auftritt. Er- stes erhaltenes (und der Niederschrift nach sicher datierbares), aber deshalb natürlich bei weitem nicht ältestes abendländisches Beispiel dafür ist der berühmte Sommer-Kanon des Mönchs von Reading ( Handschrift aus der Mitte des 13. Jahrhunderts). Der Kunstmusik allein gehört dagegen als einer der sublimiertesten Kunstformen der Kontrapunktik die »Fuge« an, in einfachstem Schema: ein gegebenes »Thema« wird durch einen »Gefährten« auf anderer Tonstufe (normal: Quint) nachgeahmt, dem »Gefährten« wiederum auf der Anfangsstufe ein »Gegensatz« gegenübergestellt, durch »Zwischensätze« dieses Widerspiel unterbrochen, durch Tempoänderungen und (normal: leiterverwandte) Modulationen vermannigfaltigt, eventuell durch »Engführung« (kanonartiger Eintritt des Gefährten neben dem Thema selbst) und auch, besonders gern zum Schluß hin, durch Hinwegführung der Stimmen über einen ausgehaltenen Ton (»Orgelpunkt«) der musikalische Sinngehalt des Gebildes konzentriert und unterstrichen. Die Anfänge der Fuge reichen ziemlich weit zurück. Ihre Vollentwicklung erreichte sie bekanntlich erst im 17. und 18. Jahrhundert. Auch außerhalb dieser beiden in gewissem Sinn charakteristischsten Grenzformen ist die, sei es strengere oder freiere, »Nachahmung« des gegebenen, immer weiter bereicherten und von allen Seiten immer eindringlicher interpretierten melodiösen Motivs auf immer anderen Tonstufen das Lebenselement der Polyphonie als Kunstmusik. Die Entwicklung der »Imitation« zu dieser beherrschenden Stellung als Kunstmittel gehört, obwohl die Anfänge wesentlich weiter zurückliegen, doch erst dem 15. Jahrhundert an und verdrängte als zweite »ars nova« damals den vornehmlich kolorierenden Stil des 14. Jahrhunderts und die ältere mehr mechanische Regulierung der Stimmbewegung. Erst seitdem hat die Kontrapunktik nicht nur die gesamte mehrstimmige kirchliche Gesangskunst, seit der Neubegründung der päpstlichen Kapelle im 15. Jahrhundert nach Beendigung des Schismas, beherrscht, sondern in starkem Maße auch die kunstgemäße Komposition von Volksliedern seit dem 16. Jahrhundert. Von dem einfachen zweistimmigen Satz »punctus contra punctum« ausgehend, zu Sätzen von mehreren Dutzend Stimmen und mit 2, 3, 4 Noten der einen gegen eine der anderen Stimmen und vom »einfachen« zum »mehrfachen«, d.h. durch gegeneinander umkehrbare Stimmen gebildeten Kontrapunkt fortschreitend, mußte sich dabei der mehrstimmige Satz in einen immer weiter sublimierten und komplizierten Kunstregelbau einspinnen. Schon vor dem Auftauchen dieser komplizierten Aufgaben bildeten die einfachen Probleme der »Parallelbewegung«, »Seitenbewegung«, »Gegenbewegung« der Stimmen mit ihren Regeln und Verboten den spezifischen Gegenstand einer seit dem 12. Jahrhundert allmählich entwickelten Theorie der Mehrstimmigkeit. Für diese haben namentlich zwei Verbote – das eine mindestens seit (wahrscheinlich aber schon vor) dem 12., das andere seit dem 14. Jahrhundert – im Vordergrund des Interesses gestanden: die Meidung des im Mittelalter als Inbegriff alles Bösen und Häßlichen geltenden »Tritonus« (pythagoreisch gemessene übermäßige Quart, z.B. f – h) und das Verbot der Parallelfortschreitungen in »vollkommenen Konsonanzen«, speziell: Oktaven und Quinten. Das rigorose Verbot des allerdings sehr scharf dissonierenden Tritonus (er fällt auch nach der Helmholtzschen Theorie unter die durch besonders naheliegende Obertöne »gestörten« Intervalle), welcher doch der »lydischen« (von f ausgehenden) Tonart als spezifisches Intervall zugehörte, war dem genuinen Gregorianischen Choral noch unbekannt. Es ist auch überall da nicht durchgedrungen, wo die Herrschaft der Kirche relativ schwach blieb (so in Island). Der Gebrauch der lydischen Tonart war der älteren Kirchenmusik durchaus geläufig, in der späteren ist sie, wenigstens in ihrer reinen Gestalt, verpönt: kein kirchlicher Choral steht in ihr. Für die Entstehung des Verbotes könnte man geneigt sein, das Eindringen des hellenischen Tetrachordsystems in die Musiktheorie seit der Karolingerzeit verantwortlich zu machen. Nicht natürlich das der genuinen hellenischen Kunstpraxis der klassischen und nachklassischen Zeit, welche den Tritonus nach Ausweis der Monumente, auch als direkten Sprung, keineswegs mied. Aber vielleicht die »Tonalitäts«-Anschauungen der christlich und damit der indirekt orientalisch beeinflußten Spätzeit. Der Tritonusschritt scheint auch außerhalb unserer harmonischen Gewöhnung melodisch nicht ganz leicht zu intonieren zu sein, und eine Folge von drei Ganztonschritten meiden auch untereinander sonst verschiedene Musiken als eine melodische Härte, ohne daß sich direkt feststellen ließe, inwieweit dabei etwa »tonale« Empfindungen – die Wirkung der Bekanntschaft mit der Quart – mitspielen. Es ist an sich, wenn man einmal Ganz- und Halbtöne klar scheiden gelernt hat, auch ohnedies verständlich, daß man einen irgendwie »rhythmischen« Wechsel beider: im Ganzton und im Halbton oder in zwei Ganztönen und einem Halbton als das melodisch Erfreulichere und Normale empfand. Für eine rationale Betrachtung aber lag es nahe, den Tritonus (und seine Umkehrung, die verminderte Quint) als ein sowohl die Quartenals die Quintenbeziehung und damit die »Tonalität« im damaligen Sinne: die Quart-Quinten-Teilung der Oktave zerschneidendes Intervall anzusehen. Der byzantinischen Musik galt aus dem gleichen Grunde die Überschreitung der »Nete« (Höchstton) der Tonart um nur einen Halbtonschritt nicht – wie andere Überschreitungen des Ambitus – als eine Modulation, sondern als Vernichtung der Tonalität selbst. Indessen ist die Änderung des Tritonus vielleicht erst wesentlich später erfolgt und mit der Mehrstimmigkeit parallel gegangen; eine ganz sichere Erkenntnis der historischen Entwicklung des Verbots scheint noch nicht gewonnen. Indem nun aber der Tritonus nicht nur nicht simultan, sondern auch nicht sukzessiv, auch nicht indirekt, auch nicht als Tonfolge innerhalb des Ensembles der Stimmen erscheinen durfte, bildete sein Verbot (in der mittelalterlichen Sprache: die Regel, daß »mi contra fa« unzulässig sei) in der Tat eine sehr fühlbare Schranke. Daß daneben von den größeren Intervallen zwar die kleine Sext (das Hauptintervall der phrygischen Tonart) und die Oktave, wenigstens von der späteren Theorie, wenn auch nur für den Aufstieg als erlaubt galten, die große Sext aber, trotz ihrer, im Gegensatz zu den stets verboten gebliebenen Septimen, guten Singbarkeit niemals als melodischer Tonschritt zugelassen worden ist, hat man rational zu begründen kaum versucht. Das vielberufene Verbot der Quinten- und Oktavenparallelen würden wir, unter der Herrschaft der akkordharmonischen Musik, geneigt sein, »tonal« dadurch zu begründen, daß leere Quinten und Oktaven von unserem Gehör als Dreiklangsfragmente interpretiert, daher ein Fortschreiten in ihnen als ein fortwährender Wechsel der Tonart verstanden werde. Die rein melodiös verstandene Polyphonie würde es am leichtesten als eine Bedrohung der musikalischen Selbständigkeit der Einzelstimmen gegeneinander ablehnen. Alle Versuche einer wirklich »prinzipiellen« Begründung sind bekanntlich höchst problematisch. Historisch entwickelt ist es, nach Ausweis der Monumente, erst, nachdem die Theorie des Abendlandes sich mit der Untersuchung der Konsonanzen und Dissonanzen und ihrer Verwendung in der Mehrstimmigkeit selbständig zu befassen begonnen hatte, die » Gegenbewegung« als Kunstmittel und die Brauchbarkeit der Terzen und Sexten als Intervalle (im Fauxbourdon) erkannt war und die ersten wirklich singbaren Leistungen polyphoner Kunstkomposition vorlagen. Es wurde nun gerade der durch Kunstnormen regulierte Wechsel der Intervalle als spezifisches Kunstmittel gepflegt, und dies erschien als ein Produkt der Emanzipation der Mehrstimmigkeit von einer gerade entgegengesetzten, nunmehr als barbarisch angesehenen Kunstpraxis. Das niemals – wie es scheint, von keinem einzigen Künstler – wirklich bis in die letzten Konsequenzen durchgeführte Parallelenverbot bringt, wie bekannt, eine stattliche Reihe sehr fühlbarer Schranken für die melodiöse Bewegung der Stimmen mit sich. Die »Tonalität« der Polyphonie – im engeren Sinne – hat sich im übrigen sehr allmählich bis zu dem – im Endergebnis – den Anforderungen der Akkordharmonik praktisch entsprechenden Zustand entwickelt. Sie ruhte das ganze Mittelalter hindurch und noch bis ins 18. Jahrhundert auf dem tonal, wie wir sahen, schwankenden Fundamente der »Kirchentöne«. Aus der Selbständigkeit der mehreren Stimmen heraus – denen die ältere Mehrstimmigkeit (namentlich der alte »motetus« des 13. und 14. Jahrhunderts) kein Bedenken trug, auch ganz verschiedene Texte zugrundezulegen – rechtfertigte man es, daß die einzelnen Stimmen auch in verschiedenen Kirchentönen stehen konnten (was je nach den Intervallen zwischen den Stimmen in der Tat oft, gerade bei Beobachtung akkordharmonischer Einheit, direkt unvermeidlich war). Die Erweiterung der Kirchentöne auf 12, unter Einbeziehung namentlich der in der außerkirchlichen Musik längst gebräuchlichen Skalen »ionisch« (auf C) und »äolisch« (auf A) durch Glarean im 16. Jahrhundert, bedeutete den endgültigen Verzicht auf die Reste der alten Tetrachordtonalität. Die Schluß- und Zwischenschlußprinzipien der polyphonen Musik entsprachen je länger, je eindeutiger den Anforderungen der neben und mit, teilweise auch gegen sie emporgewachsenen Akkordharmonik, vorbehaltlich der Besonderheiten, welche namentlich die phrygische Tonart (das hellenische »Dorisch«) immer beibehielt und bei ihrer Struktur beibehalten mußte. Anders als in der Akkordharmonik aber blieb naturgemäß in der eigentlich kontrapunktischen Polyphonie die Stellung der Dissonanzen. Das Auftreten von Theoremen über sie bezeichnet den Ansatzpunkt der spezifischen okzidentalen Musikentwicklung. Während der alte ganz reine polyphone Satz Note gegen Note die Dissonanz direkt meidet, verwiesen die ältesten sie zulassenden Theorien der Mehrstimmigkeit sie auf die unbetonten Taktteile, und bei dem Satz mehrerer Noten gegen eine ist das bekanntlich in der Kontrapunktik auch dauernd so geblieben, – während die eigentliche Stätte der dynamischen Dissonanz in der akkordharmonischen Musik gerade der betonte Taktteil ist. Die Zusammenklänge kommen eben in der reinen Polyphonie, prinzipiell wenigstens, nur als Elemente der Klangschönheit in Betracht. Die Dissonanz ist nicht, wie in der Akkordharmonik, das spezifisch dynamische Element, welches die Fortschreitung aus sich gebiert, sondern umgekehrt ein Produkt der rein melodiös determinierten Fortschreitungen der Stimmen. Sie ist daher, im Prinzip, stets »zufällig« und muß auch, wo der entstehende Zusammenklang rein an sich eine »harmonische« Dissonanz darstellt, »gebunden« auftreten. Dieser Gegensatz des harmonischen und des spezifisch polyphonen Musikempfindens ist in ziemlich deutlicher Weise schon im 15. Jahrhundert in der Art der Behandlung der Dissonanzen im italienischen weltlichen Lied einerseits, in der kirchlichen Kunst der Niederländer andererseits erkennbar.

 


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