Temperierung


Dieser außermusikalischen rationalistischen Alterierung des Tonsystems steht nun gegenüber die Rationalisierung von innen her, auf Grund des spezifischen Charakters der Melodik als vornehmlich interessierter Symmetrie und Vergleichbarkeit der Tondistanzen. Wir haben ja Versuche, einen gemeinsamen Distanznenner für die Intervalle der Oktave zu finden, in den chinesischen, indischen und auch in hellenischen Experimenten kennengelernt. Und da alle Rationalisierungsversuche auf der Basis der harmonischen, also distanzmäßig ungleichen, Teilung der Oktave nicht glatt aufgehen, lag gerade melodischen Musiken sicherlich von jeher der Versuch nahe, auf einem ganz anderen Wege, nämlich durch Distanzen-»Temperierung«, zu einem rationalen Resultat zu gelangen. Temperiert im weitesten Sinne ist jede Tonskala, bei welcher das Distanzprinzip derart durchgeführt ist, daß die Reinheit der Intervalle relativiert wird zu dem Zwecke, den Widerspruch der verschiedenen Intervall-»Zirkel« untereinander durch Reduktion auf nur annähernd reine Tondistanzen auszugleichen. Ihre radikalste Grenzform ist die, daß ein Intervall, natürlich die Oktave, welche ihrerseits keinerlei nur relative Reinheit erträgt, zugrunde gelegt und einfach in gleich große Tondistanzen zerlegt wird: in der siamesischen Musik in 7, in der offiziellen javanischen in 5, so daß also der einzelne Tonschritt gleich bzw. wird. In diesen Grenzfällen ist freilich von einer »Temperierung« irgendwelcher harmonischer Intervalle, d.h. der Relativierung ihrer Reinheit, nicht mehr die Rede, sondern es liegt eine Rationalisierung der Skala auf einer (außer für die Oktave selbst) zwar »musikalischen«, aber gänzlich außerharmonischen Basis vor. Auch für die Siamesen scheint es sehr wahrscheinlich, daß historisch der Ausgangspunkt die Teilung in Quint und Quart war – denn gerade die, auch unserem Gefühl am meisten anstößigen, Unreinheiten: die der Quart naheliegenden Distanzen, werden nach Stumpfs Feststellungen tatsächlich möglichst gemieden – und daß dann ( vielleicht über die Pentatonik hinweg) die jetzige, lediglich auf ein bei den Siamesen (nach Stumpfs Ermittelungen) außerordentlich scharfes, die Leistungen der besten europäischen Klavierstimmer übertreffendes Distanz gehör gegründete Rationalisierung erfolgte. Es ist, da das Phänomen der zahlenmäßigen physikalischen Bestimmtheit der Konsonanzen von jeher die zahlenmythologische Deutung der Töne nahelegte, wahrscheinlich, daß die Heiligkeit der fünf- und ( namentlich) Siebenzahl die Art der Teilung mindestens mit beeinflußt hat. Nach ihrer praktischen Seite ist die Temperierung für eine rein melodiöse Musik wesentlich ein Mittel, die Transponierung der Melodien in jede Stimmlage ohne Umstimmung der Instrumente bewerkstelligen zu können.

Temperierung liegt einer ohnehin wesentlich melodisch- distanzmäßig orientierten Musik sehr nahe. Im hellenischen Altertum war Aristoxenos ihr Anhänger; er freilich zuerst als Tonpsychologe wesentlich im Zusammenhang mit seiner Abneigung gegen die Rationalisierung durch die Instrumente und die Herrschaft der rein virtuosen Instrumentalmusik: das Gehör allein sollte über Wert und Unwert der melodischen Intervalle entscheiden. Aber auch das Spielen mit den Vierteltönen und anderen kleinen Intervallen als »letzten« Einheiten des Tonsystems legte, im nahen wie im fernen Orient, den Gedanken der Temperierung nahe. Wirklich durchgeführt ist er, außer in den erwähnten, eigentlich mehr in das Gebiet der außermusikalischen Vergewaltigung gehörenden Fällen, nirgends. Japanische Sänger scheinen in ihren Abweichungen von den offiziellen Intervallen ebensooft nach der Seite der »reinen«, wie einer temperierten Stimmung zu gleiten.

Aber das Prinzip der Temperierung hat bekanntlich seine wichtigste Stätte gerade nicht auf dem Boden der ihr, in gewissem Sinn, urwüchsig verwandten melodischen Musiken gefunden. »Temperierung« war auch das letzte Wort unserer akkordharmonischen Musikentwicklung. Da die tonphysikalische Rationalisierung stets irgendwo auf das fatale »Komma« stößt, die reine Stimmung speziell nur ein relatives Optimum eines Ensembles von Quinten, Quarten und Terzen liefert, so war schon Anfang des 16. Jahrhunderts für die spezifisch okzidentalischen Instrumente mit fester Stimmung: die Tasteninstrumente, eine teilweise Temperierung herrschend. Damals war der Gesamttonraum auch dieser Instrumente auf immerhin noch nicht sehr viel mehr als den Umfang der Singstimmen begrenzt, und ihre Hauptfunktion war Begleitung von Vokalmusik; es kam also hauptsächlich auf den Ausgleich innerhalb der vier mittleren Quinten unseres heutigen Klaviers (C–e´) an; und die Reinheit des damals die Musik von innen durchdringenden Intervalls der Terz stand im Mittelpunkt des Interesses. Die Mittel des Ausgleichs waren verschieden. Nach Schlicks Vorschlag sollte die »ungleichschwebende« Temperatur durch Temperierung der Quint dasjenige e, welches im Quintenzirkel von C aus als vierte Quint erscheint, rein stimmen. Praktischer war die »mitteltönige« Temperatur, denn bei Schlicks Vorschlag war der Mißstand besonders fühlbar, den alle ungleich schwebenden Temperaturen, welche die Quint alterierten, mit sich führten: daß auch die für die damalige Musik so wichtigen Quarten unrein wurden (der bei den Orgelbauern, durch deren Hand damals alle Stimmungsprobleme gingen, berüchtigte »Wolf«). Die Vermehrung des Tonraums auf Orgel und Klavier, das Streben nach dessen völliger Ausnutzung in der reinen Instrumentalmusik, die technische Schwierigkeit demgegenüber, Klaviere mit einigen 30 bis 50 Tasten auf die Oktave im Klaviertempo zu benutzen – und ihrer Zahl ist, wenn man für jeden Zirkel reine Intervalle konstruieren will, prinzipiell keine obere Grenze zu setzen –, die Notwendigkeit freier Transposition und vor allem freier Akkordbewegung führten zwingend zur gleichschwebenden Temperatur: der Einteilung der Oktave in 12 gleiche Halbton- Distanzen von je , der Gleichsetzung also von 12 Quinten mit 7 Oktaven und der Beseitigung der enharmonischen Dië sen, welche für alle Instrumente mit fester Stimmung nach hartem Kampf schließlich, theoretisch unter dem Einfluß Rameaus, praktisch besonders durch die Wirkung von J. S. Bachs »Wohltemperiertem Clavier« und seines Sohnes Schulwerk, endgültig siegte.

Die Temperierung war für die Akkordmusik aber nicht nur die Voraussetzung freier Fortbewegung der Akkorde, welche ohne sie ewig an dem Nebeneinander verschiedener Septimen, ganz reiner und ganz unreiner Quinten, Terzen und Sexten sich zerreiben müßte. Sondern sie bot ihr bekanntlich positiv ganz neue und höchst fruchtbare Modulationsmöglichkeiten durch die sog. »enharmonische Verwechslung«: die Umdeutung eines Akkordes oder Tones von einer Akkordbeziehung, in der er steht, in eine andere ist als Modulationsmittel spezifisch modern, mindestens soweit es als solches bewußt verwendet wird. Denn in der polyphonen Musik der Vergangenheit hängt die sehr häufige harmonische Mehrdeutigkeit von Tönen mit der Tonalität der Kirchentonarten zusammen. Und daß die Hellenen ihre enharmonischen Teiltöne zu ähnlichen Zwecken benutzt oder konstruiert hätten, wie gelegentlich behauptet worden ist, kann nicht erwiesen werden und läuft dem Charakter dieser Töne als durch Spaltung entstandener Tondistanzen zuwider. Ihre Modulationsmittel waren andere, wenn schon das Pyknon gelegentlich (so im Apollon-Hymnus) vielleicht beim Übergang in das Synemmenon seine Rolle spielte, die aber dann eine rein melodische – der schon in Negermusiken sich anscheinend findenden Funktion irrationaler Tonfolge ähnliche –, mit heutigen enharmonischen Beziehungen dagegen durchaus nicht vergleichbare gewesen wäre. Für die enharmonische Verwechslung in der Akkordmusik war Hauptträger naturgemäß der verminderte Septimenakkord (z.B. fis–a–c–es), leitereigen auf der großen Septime der Molltonarten (zum Beispiel g- moll), mit Auflösungen in 8 verschiedenen Tonarten je nach der enharmonischen Deutung seiner Intervalle. Die gesamte moderne akkordharmonische Musik überhaupt ist ohne die Temperierung und ihre Konsequenzen nicht denkbar. Erst die Temperierung brachte ihr die volle Freiheit.

Die Besonderheit der modernen Temperierung aber ist: daß die praktische Durchführung des Distanzprinzips auf unseren Tasteninstrumenten eben doch nur als »Temperierung« harmonisch gewonnener Töne und nicht, wie die sog. Temperierungen in den Tonsystemen der Siamesen und Javanesen, als Schaffung einer wirklichen bloßen Distanzskala statt der harmonischen behandelt wird und wirkt. Denn neben der distanzmäßigen Intervallbemessung steht die akkordharmonische Auffassung der Intervalle. Sie beherrscht theoretisch die Orthographie der Notenschrift, ohne deren Eigenart eine moderne Musik nicht nur technisch, sondern auch sinngemäß nicht möglich wäre, und welche diese ihre Funktion für das sinngemäße Verständnis gerade nur dadurch erfüllt, daß sie die Tonfolge nicht als ein indifferentes Nacheinander von lauter Halbtönen behandelt, sondern die Bezeichnung der Töne je nach ihrer harmonischen Provenienz (trotz aller orthographischen Freiheiten, die sich auch die Meister erlauben) prinzipiell festhält. Daß freilich auch unsre Notenschrift, entsprechend ihrer historischen Herkunft, in der Exaktheit ihrer harmonischen Tonbezeichnung ihre Grenze hat und insbesondere zwar die enharmonische, nicht aber die kommatische Bestimmtheit der Töne wiedergibt – sie muß z.B. ignorieren, daß der Akkord d–f–a je nach der Provenienz der Töne entweder ein echter Moll-Dreiklang oder eine musikalisch-irrationale Kombination der pythagoreischen mit der kleinen Terz ist –, läßt sich freilich nicht ändern. Aber auch so ist die Bedeutung unserer Notenschreibweise groß genug. Sie ist, obwohl nur historisch erklärlich, keine bloße antiquarische Reminiszenz. Denn die Deutung der Töne je nach der harmonischen Provenienz beherrscht ja vor allem auch unser musikalisches »Gehör«, welches die auf den Instrumenten enharmonisch identifizierten Töne je nach ihrer akkordlichen Bedeutung verschieden zu empfinden, ja geradezu subjektiv verschieden zu »hören« weiß. Auch die modernsten Entwicklungen der Musik, welche praktisch sich mehrfach in der Richtung einer Zersetzung der Tonalität bewegen, – mindestens zum Teil Produkte der charakteristischen, intellektualisiert-romantischen Wendung unseres Genießens auf den Effekt des »Interessanten« hin, – können schließlich mindestens von irgendwelchen letzten Beziehungen zu diesen Grundlagen, und seien es solche des Kontrastes, nicht los. Es ist freilich zweifellos, daß das im letzten Grunde harmoniefremde »Distanzprinzip«, welches objektiv der Einteilung der Intervalle unserer Tasteninstrumente zugrunde liegt, – nur die Orgelmixturen haben reine Stimmung, – ebenso ungemein abstumpfend auf die Feinheit des Gehörs wirkt, wie dies der sehr starke Gebrauch »enharmonischer Verwechslungen« in der modernen Musik für das harmonische Empfinden an sich zu tun geeignet sein könnte. Die tonale Ratio wirkt aber, sowenig sie die lebendige Bewegung der musikalischen Ausdrucksmittel jemals einzufangen vermag, doch in der Tat überall, sei es noch so indirekt und hinter den Kulissen, irgendwie als formendes Prinzip, ganz besonders stark aber in einer Musik wie der unsrigen, wo sie zur bewußten Grundlage des Tonsystems gemacht worden ist. Und was die »Theorie« als solche anlangt, so ist zwar nichts greifbarer, als daß sie den Tatsachen der musikalischen Entwicklung fast stets nachgehinkt ist. Aber deshalb ist sie nicht etwa einflußlos gewesen, und ihr Einfluß ist auch keineswegs etwa nur in die Waagschale des schon praktisch Bestehenden gefallen, so wahr es ist, daß sie die Kunstmusik wiederholt in lange nachgeschleppte Ketten geschlagen hat. Gewiß hat die moderne Akkordharmonik der praktischen Musik längst angehört, ehe Rameau und die Enzyklopädisten ihr eine (noch wenig vollkommene) theoretische Basis gaben. Aber daß dies geschah, war praktisch fruchtbar, ganz ebenso wie die Rationalisierungsbestrebungen der mittelalterlichen Theoretiker für die Entwicklung der auch ohne [ihr] Zutun schon bestehenden Mehrstimmigkeit. Die Beziehungen zwischen musikalischer Ratio und musikalischem Leben gehören zu den historisch wichtigsten variierenden Spannungsverhältnissen in der Musik.

 


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