Die Russen in der Mandschurei und — in Polen


(Weressajew, Meine Erlebnisse im Russisch-Japanischen Krieg)

(3.1.1915)

 

Der Krieg bringt es mit sich, daß man sich intensiver wieder mit Politik beschäftigt. Kaiser, Staat, Diplomatie; Bomben, Russen, Franzosen; das alles ist mehr als je in den Brennpunkt gerückt. Die Aufdringlichkeit der Geschehnisse fordert eine Distanzierung: politisches Denken. Politik ist geworden: die Wissenschaft von den Mitteln, mit denen man sich durchsetzt oder behauptet; mit denen man durchzusetzen oder zu behaupten sich versucht. Man fühlt Veranlassung, sich xphon politikon zu nennen, sei es aus Haß oder Notwehr. Das Schicksal der Nachbarstaaten kann dabei nicht gleichgültig sein. Ihr Rüstzeug, ihr System, ihre Ökonomie sind die Größen, von denen im Falle Erfolgs oder Mißerfolgs auch unsere Zukunft abhängt. Es ist ein geheimes Politisieren. Es sind Geheimverbände des Nachdenkens. Priesterschaften einer künftigen Humanität, die am Werke sind. Wer vermöchte jetzt, in einem Chaos der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, anders zu denken?

Es handelt sich um ein Buch über den Russisch-Japanischen Krieg. Vom Weressajew, einem Ambulanzarzt aus Moskau. Er schildert das Débâcle einer Armee, die nicht so sehr am Feinde, als an sich selber zugrunde geht. Eine Armee von Hilflosen, Krüppeln, Verbrechern; Sträflingen, Kranken. Der ganze sibirische Menschenauswurf, der irgendwo in China, Tausende von Werst vom Mutterland entfernt, gegen einen modernen und überlegenen Gegner geführt wird. Eine Armee, die ausgeplündert von ihren eigenen Offizieren, von Polizisten überwacht, betrunken, verlumpt und verkommen auf der Landstraße liegen bleibt. Eine Armee ohne Prinzip, ohne Idee, von einem unbedeutenden, armseligen Menschen, der zufällig Zar ist, sinnlos hinausgeschickt; von der Presse, einem Gott aus Papier, wie von einer Bremse verfolgt; geschlagen, rebellisch, drohend, wüst; Gefängnislieder singend, schon als sie hinauszieht.

Die Heiligkeit dieser Armee ist die Farbe des Buches. Der Zar von Rußland ist zugleich Papst der orthodoxen Kirche. Wenn er einen Krieg macht, kann es nur ein heiliger Krieg sein. Ob mit Verbrechern, mit Dieben, Banditen, oder mit regulären Truppen, ist einerlei. Die Patriarchen, die Popen bestärken ihn in seiner Gottesstellvertreterschaft. Die Presse, feige und immer auf der Seite dessen, der das Geld oder die Macht hat, betont den tiefchristlichen Charakter des Krieges, den »beginnenden siegreichen Kampf des heiligen Georg mit dem Drachen«. Waggonladungen von Heiligenbildern gehen nach dem Osten und versperren die Bahngeleise. Die Soldaten singen das Ottsche nasch (»Vaterunser«) in einem Atem mit Arrestantenliedern. Die Spitäler sind überfüllt mit Heiligenbildern (nach ihnen wird inspiziert, nicht nach den sanitären Maßnahmen). Die Georgskreuze, Stanislaus-, Anna- und Wladimirorden kommen auf die Armee herab wie ein Platzregen.

Nur: Väterchen Zar mißtraut dieser Armee. Trotzdem er beglückt zu sein scheint, alles Verbrechertum, allen Mißwuchs mit einem Schlag von Sibirien abgeschoben zu haben. Ein großartig umfassender Polizeiapparat enthüllt sich, der in Spitälern, Schützengraben, im Generalstab unsichtbar wirkt, keines der Opfer entkommen zu lassen. Der Polizeimeister von Irkutsk ist Generalinspektor der Lazarette. Da gibt es lauter Simulanten. Typhus, Ruhr, Bronchitis, Fieber: das alles existiert nicht. Ganz kurz: Simulanten und Durchfall. Man hat ein Mittel gefunden, diese Drückeberger von den Lazaretten fernzuhalten: man gibt ihnen ein Brechmittel, das entsetzliche Übelkeit verursacht und jegliche Lust benimmt, wiederzukommen. Man überwacht die Berichte der Offiziere, die Maßnahmen des Generalstabs; nicht wegen der Tüchtigkeit, sondern in puncto Treue und hinsichtlich der Berichte. Es ist ganz nebensächlich, was geschieht. Es ist nur wichtig, was gemeldet wird. Es hat zu klappen. Wenigstens: auf dem Papier. Das ist die Hauptsache. Kuropatkin wird abgesetzt, vielleicht weil er zuviel Charakter hatte. Er ist ein »Charakter«, sonst hätte er längst sich zum Diktator aufgeworfen. Das »heilige Vieh«, das zur Schlachtbank geführt wird, kann gar nicht begreifen, was der Zar gedacht, als er diesen Krieg anfing. Aber was der Zar gedacht hat, stellt sich als ganz nebensächlich heraus. Es handelt sich um ein wohlgelungenes, großartig angelegtes Räubersystem der Offiziere. Der Zar hat nur das Dekorativ-Patronat. Die Offiziere, der Generalstab, die Intendanzen haben diesen Krieg gemacht. »Der Soldat will den Krieg«, depeschieren sie nach Hause. »Er ist frohgemut, fest, voll Gottvertrauen und Hoffnung auf den Sieg«. Sie depeschieren das aber, um ungestört ausgiebig rauben zu können. Sie veruntreuen Hunderttausende, ja Millionen. Sie haben »Furagierlisten«, »Wirtschaftsgelder«, »Extraverpflegung«, »Vorschußsummen«. Sie verkaufen die Lastpferde, lassen die Chinesen falsche Quittungen unterschreiben. Sie haben ihre Angestellten im Heere, denen sie Schweigegelder bezahlen, und Davidoff, irgendein Oberarzt, erzählt unter Kollegen ganz offen, daß er monatlich 2000 Rubel nach Hause schickt. Es ist eine Komik von besonderer Art, zu sehen, wie zuletzt, als die Soldaten Sabotage treiben und rebellieren, Dutzende von Offizieren sich niedermachen und ins Gesicht schlagen lassen, nur um weiterrauben zu können. Die Chungusen ziehen diesen Offizieren Ringe durch die Nase und treiben sie über die Ebene. Die Soldaten lachen ihnen ins Gesicht. Die Japaner, wenn sie das seltene Abenteuer haben, Gefangene der Russen zu werden, lächeln und geben in zuvorkommend-liebenswürdiger Weise Auskunft über die (russischen) Stellungen und den Gang der Schlacht.

Daneben die Despotie der Subalternen, die kleine, gereizte Beamtenseele der Unteroffiziere, Regimentsgeschäftsführer, Furagemeister, Etappenschreiber, Bahnverwalter usw. Man ist in Sibirien und hinter Sibirien. Die Organisation steht still. Das System hat aufgehört. Die Autorität der Vorgesetzten ist gleich Null. Die immer Getretenen, Unbeachteten, Untergeordneten, treten hervor, befinden sich wichtig und rächen sich. Jegliche Disposition, jegliche sachgemäße Verwaltung entfällt. Der Armee fehlt es am Nötigsten. An Tragbahren, Seife und Brennholz; an Nachtstühlen, Hafer, Pelzen und Mänteln. Alle diese Dinge sind nahebei. Nur weiß kein Mensch, wo sie stecken. Der Beamte pocht plötzlich auf Formalitäten und Umständlichkeiten, für die niemand Zeit hat. Der kleine Beamte versteift sich plötzlich auf Ordnungsgemäßheit, auf Bürokratie. Er ergreift die Zügel. Er kommt sich als Gott, Kaiser und Vaterland vor. Wenn er schon Hunger und Kälte erleiden muß, dann will er auch seine Genugtuung haben. Es fahren hunderte von Wagen, beladen mit Krongut, Verbandzeug, Stiefeln und Pelzen mitten unter verendenden, eiternden, zerfetzten Soldaten. Man kann sie nicht mitnehmen. Man hat keinen Befehl. Man kann doch das Krongut nicht in den Graben werfen! Sanitätsmaterial wird keines mehr geliefert, oder nur gegen Schein, der mit Tinte geschrieben ist! Tinte gibt es aber keine (dort hinten in der Mandschurei). Es werden auch keine Kanonen mehr in die Schlacht gestellt. Weil keiner der Sündenbock mehr sein will, wenn sie verloren gehen. Man bringt diese Kanonen lieber vor allem Beginn der Schlacht in Sicherheit. Immer dasselbe: der Zar fühlt sich verpflichtet dem Gottesgnadentum. Die Orthodoxie fühlt sich verpflichtet dem Zaren (der ja auch weltlich manches für sie getan hat). Die Polizei ist echt. Polizisten: die glauben an Religion, an Notwendigkeit von Moral, Unterwerfung und Heiligkeit. Offiziere: sie rauben und stehlen (sie wissen das Geheimnis und machen es sich zunutzen). Der Subalternbeamte ist Recht und Prinzip, Gesetz und Vernunft.

Was an diesem Buche zumeist interessiert, ist die Frage, wie weit Zustände, die vor 10 Jahren bestanden, für die heutige Armee noch Gültigkeit haben. Wie weit sich Parallelen ziehen lassen. Das System wird, heimlich und unterdrückt, wohl dasselbe geblieben sein. In zehn Jahren ändert sich kein System. Auch fehlt das Organ der Reform, das inzwischen hätte Abhilfe schaffen können. Die Entfernung des Schlachtfeldes vom Regierungssitz hat sich verringert. Das ist eine wesentliche Änderung; denn in Rußland wird immer die Entfernung des Heeres vom Verwaltungszentrum im direkten Verhältnis stehen zur Summe der Unterschlagungen und Beraubungen, die den Lebensnerv der Armee untergraben. Es ist anzunehmen, daß heute das beste Rußland im Felde steht; daß dafür aber die Anarchie an der entgegengesetzten Grenze, in Sibirien und im Osten überhand nimmt. Der Apparat zu Hause — nicht wie in jenem Falle die Armee — wird versagen und fallieren. Die reguläre Armee, die 1905 (im japanischen Krieg) den Aufständischen entgegentrat, steht dann in Polen: der Kern Rußlands, das universale junge Rußland. Solange diese Armee Erfolg hat (d. h. aushält), wird alles gut gehen. Die Wühlarbeit und die Korruption zu Hause werden an der Existenzfurcht des Volkes scheitern. Wenn aber erst einmal Niederlagen kommen von ausschlaggebendem Umfang; Rückzug, Unordnung, Flucht — dann wird die Deroute dieser Armee kein Gott mehr aufhalten können. Sie wird sich zu Hause mit dem Anarchismus verbinden. Der Regierung wird nur der Landsturm noch zur Verfügung stehen, ein Landsturm, der seine letzten Habseligkeiten im Stiche läßt und der den Gehorsam verweigern kann.

Die russische Armee, die heute im Felde steht, trägt die Möglichkeit in sich, mit einem Schlag sich aus einer Armee von Soldaten in eine Armee von Terroristen zu verwandeln.

Was dann geschehen wird, läßt sich nicht absehen. Der Sturz des Zarismus, seit hundert Jahren vorbereitet, kann über Nacht zu einem Ideal werden, das alle unterdrückten Elemente zusammenrafft in einer neuen Religion. Der Sturz des Zarismus, die nächste große Aufgabe, die Europa gestellt ist, kann einen Brand entfachen schlimmer als der gegenwärtige Krieg.


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