Einleitung zum »Almanach der Freien Zeitung«


 

1.

Der Almanach der »Freien Zeitung« ist entstanden aus sehr praktischen Erwägungen. Die Deutschen im Auslande beginnen sich zu regen. Die Nachfragen nach älteren Einzelnummern der Zeitung, nach Abzügen von Aufrufen und Manifesten mehren sich. Die Konsistenz der Zeitung und ihre Prinzipientreue erweckten den vielfachen Wunsch, die Gesamtaktion der »Freien Zeitung« und den Umkreis ihrer Interessen überblicken zu können. Nach anderthalbjährigem Bestehen erweist die »Freie Zeitung« sich als eine moralische Macht, mit der man rechnet, zeigt sie Anfänge einer republikanischen Bewegung, deren Bild man nach jeder Seite sich abrunden will. Nun sind die älteren Nummern der Zeitung fast völlig vergriffen, und die Verfügungen über den Papierverbrauch legen einer Neuauflage gewisse Schranken auf. So hat die Redaktion sich entschlossen, die prinzipiell wichtigsten Beiträge und Äußerungen zunächst, soweit sie den Umkreis der deutsch-demokratischen Interessen bezeichnen, zu sammeln und den ideellen Gesichtspunkten des deutschen Herausgebers dieses Almanachs insofern entgegenzukommen, als sie ihm in Auswahl und Anordnung des Materials durchaus freie Hand ließ.

Wir deutschen Sozialisten und Demokraten sind der »Freien Zeitung« zu größtem Danke verpflichtet. Befehdet nicht nur von schweizerischer, sondern noch mehr von offiziell deutscher Seite, und beargwöhnt nicht nur von prinzipiellen Gegnern, sondern sogar im Lager der liberalistischen deutschen Opposition, hat die »Freie Zeitung« unentwegt ihre Sache, die Sache der Demokratie, mit Entschiedenheit vorgebracht, und wenn man ihr eine, gewissen pazifistischen Tendenzen und Versöhnlern unangenehme Beschränkung ihres Programms (vorzügliche Bekämpfung der deutschen Reaktion) vorwerfen konnte, so mußte man gerechterweise doch anerkennen, daß sie in der Schweiz das einzige Blatt deutscher Sprache blieb, dem nicht finanzielle und optimistische Interessen diktierten, sondern die Sache der Freiheit und der Idealismus überzeugter Republikaner; daß ihr das Recht über den Vorteil ging, die Tatsache über die Phrase, und die Wahrheit und Aufrichtigkeit über die Diplomatie.

 

2.

Die deutsche demokratische Bewegung in der Schweiz hat sich in der »Freien Zeitung« ziemlich vollständig nicht nur gespiegelt, sondern auch abgespielt. Über die Ziele, Sorgen und Hoffnungen dieser Bewegung soll dieser Almanach Aufschluß geben. Aber er soll noch etwas mehr. Er soll anhand von Dokumenten und wissenschaftlichen Feststellungen zugleich die Gesinnung und den Umfang jener Gewalten darstellen, mit denen die Führer dieser Bewegung den Kampf aufnahmen; jene bösartigen und verschlagendsten Ränke, die es jemals im Laufe der Geschichte zu bekämpfen galt. Dieser Almanach soll ein Sammelbuch und Expose aller der Fragen sein, mit deren Beantwortung die Selbständigkeit und Genesung der deutschen und österreichisch-ungarischen Völker und damit der Welt scheitern oder sich erfüllen werden. Wir empfehlen diese Sammlung, wie Friedrich Engels einst vor Jahrzehnten das »Kapital« von Karl Marx empfahl, als er den Freunden riet, dies Buch in der Hand zu »parlamentein«.

Im Mittelpunkt der Ereignisse dieses Krieges stand für die »Freie Zeitung« von der ersten Nummer ihres Erscheinens an die Schuldfrage. Mit der Beantwortung dieser Frage zu Ungunsten der deutschen und österreichisch-ungarischen Regierungen, mit der Beantwortung der Schuldfrage zu Ungunsten der autokratischen und theokratischen Systeme der Hohenzollern und Habsburger Dynastien war zugleich die Stellung der »Freien Zeitung« zu Frieden, Verständigung und Internationale gegeben. Kein Friede, keine Verständigung, kein Internationale, ehe Preußen in Deutschland aufgelöst, die Soldaten- und Jesuitendynastien beseitigt und die Aufhebung Österreichs im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes seiner verschiedenen Völkergruppen erreicht wären. Keine »Versöhnung« im Kampfe gegen die Kriegsurheber und die sie stützenden Kasten und Kartenschläger, ehe diese ein für allemal vor ihrer Nation wie vor der Welt kompromittiert und unmöglich, dann aber auch unschädlich gemacht wären. In dieser ihrer Überzeugung stellte die »Freie Zeitung« sich auf den Standpunkt der Weltdemokratie und der großen Prinzipien, die Wilson für einen homogenen internationalen Aufbau vorschlug. Sie ließ innerhalb dieses Programms Pazifisten und Sozialisten so gut zu Worte kommen wie bürgerliche Demokraten, aber sie verlangte von deutschen Sozialisten nationale Taten, bevor sie auf eine internationale Ideologie einging, deren völkerbefreiende Phrase lange genug für die Welt eine Täuschung war, bis sie 1917 für Ludendorff eine Freude wurde.

 

3.

Die Schwächen dieses Almanachs sollen nicht bemäntelt werden. Es wäre nicht im Interesse unserer Sache, wenn man bescheidene Anfänge überschätzte und eine sehr einflußreiche Bewegung vermutete, wo vorerst ein Fähnlein aufrechter Republikaner und Demokraten, von allen Seiten beschimpft, geschmäht und der Vaterlandslosigkeit bezichtigt, die Initiative ergriffen hat. Die Wehen dieser Zeit werden eine Renaissance des deutschen Gedankens bringen, unweigerlich. Ihr dienen wir. Aber die freiheitliche Tradition Deutschlands ist dürftig und schwach; das Echo, das unserem Rufe antwortet, kränklich und karg. Vom tiefen Mittelalter bis auf unsere Zeit gab es nur wenige Geister, die unzweideutig der Emanzipation unseres Volkes und der Menschheit dienten. Die Namen der Luther, Kant und Marx konnten den höheren Einfluß der Münzer, Baader und Weitling verdrängen. Luther: er gab der Nation ihre politische Unabhängigkeit, aber er verriet auch das Gewissen an den Feudalstand der Fürsten. Kant: er zerstörte den Obskurantismus und das pietistische Refugium der Theologie, aber er fand auch die Ausflucht der »intelligiblen Freiheit« und den kategorischen Imperativ der Pflicht unter dem Soldatenregiment Friedrich Wilhelms I. Marx: er schuf eine neue Realität, die proletarische Masse; er setzte der Nation die Prinzipien einer sozialen Revolution auseinander. Aber er ermutigte auch die moralische Fahnenflucht, indem er die Internationale empfahl, ohne die Beseitigung des Junkerregiments zur Vorbedingung zu machen. Und so wurden Heroen der Nation gerade diejenigen Geister, die jenes Odium der Zweideutigkeit zum Ausdruck brachten, das ein historisches Erbteil ist. Die barbarische Adelsherrschaft und Gewalttradition wurden niemals entscheidend gebrochen. Eine der Mehrheit des Volkes zusagende materielle und positive Religionsform, die im Gewissen des einzelnen verkümmern ließ, was im Gewissen der Gesamtheit frenetischen Aufschwung hätte nehmen sollen, züchtete ein Scheinchristentum, tötete die Voraussetzung jeder freiheitlichen Handlung, den Enthusiasmus, und hemmte die gütige Konspiration. Hierin begründet ist die Härte und Zerrissenheit Deutschlands und der Mangel sowohl einer politischen wie intellektuellen Erhebung. Und daraus ergab sich, als 1914 der von unverantwortlichen Staatslenkern veranstaltete Totentanz ausbrach, daß dieser Tanz an Entsetzlichkeit alles bis dahin Erlebte überbot, und daß gleichwohl die Nation weder ein Veto, noch in ihrem intellektuellen Bewußtsein auch nur die Prinzipien fand, die den furor teutonicus preußischer Junker hätten zu brechen vermögen.

 

4.

Ein Arsenal der Gegenrevolution blieb Deutschland vom Mittelalter bis auf unsere Tage. Von 1813 bis 1871 erstarkte das preußisch-junkerliche System in unerhörter Weise und ohne jegliche Einsprache von außen her. Von 1871 an verließ die Nation vollends ihre vielgepriesene idealistische Tradition, und sogar die Gelehrtenrepublik ging im Imperialstaat auf. Die Sozialdemokratie, in ihren Anfängen schon staatserhaltend und auf gesetzlichem Boden stehend, wurde vom Polizeiknüttel gebändigt und von einer heuchlerischen Sozialgesetzgebung in den Beamten- und Militärstaat »gehoben«. Die bürgerliche Opposition, 1848 noch so lebhaft und hitzig, hatte 1850 bereits ihre edelsten Elemente an Amerika verloren und verflachte in kläglichem Epigonentum. Der Adel aber war ja in Deutschland, von vereinzelten Ausnahmen im 16. und 19. Jahrhundert abgesehen, niemals Träger der humanitären Gedanken. Die Zeiten der Bismarck und Roon, der Hindenburg, Ludendorff, Tirpitz und Reventlow waren gekommen.

Einer starken freiheitlichen Entwicklung im Wege stand auch die kleinbürgerliche Kurzsichtigkeit jener Deutschen Demokraten, die 1848 das Bündnis mit den Tschechen ablehnten, wie ihre Väter und Ahnen es zur Zeit der französischen Revolution und der Hussitenkriege nicht suchten. Statt die Tatsache einzusehen, daß die Völker deutscher Sprache seit 1871 der Doppeldespotie eines Kaisers in Berlin und eines Kaisers in Wien und deren gemeinsamen Kabinetten ausgeliefert waren; statt mit der slawischen Opposition Österreich-Ungarns sich zu verständigen, hielt die deutsche Sozialdemokratie (die einzige prinzipielle Oppositionspartei) an jener Tradition der 48er Jahre fest, nach der die Tschechen und Balkanslawen nicht revolutionsfähig waren, weil dem Pangermanismus ihr slawisches Wesen und der marxistischen Wirtschaftsideologie ihre unentwickelte agrarische und handwerkliche Produktionsstufe widersprachen. Von Marx und Lassalle über Liebknecht und Bebel bis zum Ausbruch der russischen Revolution betrachtete man Österreich als »Schutzwall gegen den Zarismus«, als »Prellbock gegen den Panslawismus«, ohne innerhalb des offiziellen Österreich zwischen unterdrückten und unterdrückenden Strömungen sehr zu unterscheiden. Die freiheitliche Auffassung, Pakt und Solidarität mit der Donauopposition entsprachen der nationalen Überhebung und dem Dogma nicht. Merkwürdig genug! Die Doktrin unserer sozialpatriotischen Wirtschaftsrebellen war Frankreich entliehen, und doch vergaßen sie, daß dort seit 1793 der Feudaladel gebrochen war, in Deutschland und Österreich aber nicht. In Deutschland unterschätzten sie das Junkertum und seine südöstlichen Bündnisse; in Österreich aber teilten sie die Ansicht der Hetzpresse und belächelten den Selbstbestimmungswillen der unterdrückten Südslawen und Tschechen. Doch kann man sagen, daß 1914 diese Ideologen Fiasko machten, als gerade das Selbstbewußtsein und der Freiheitsdrang bosnischer Südslawen für Österreich und die verbündete Berliner Regierung Anlaß zum Losschlagen wurden. Ein Veto und Aufstand aller freiheitlich und demokratisch gesinnten Mächte der Welt gegen den theokratisch-militärischen Jesuiten- und Gewaltblock, gegen die gotischen Vorurteile und Privilegien, war die Folge. Der Weltkrieg aber brachte es mit sich, daß nicht nur die politische Emanzipation der deutschen und österreichisch-ungarischen Völker, sondern auch deren zurückgebliebene moralische, religiöse und intellektuelle Entwicklung zur Diskussion gestellt wurde.

 

5.

Hinter einem materiellen Aufkläricht, hinter dem Perfektionsdrill einer jahrzehntelangen Militärherrschaft und den Finessen einer sophistischen Universitätskamarilla traten geistige Armut und Verwilderung in erschreckender Weise zutage. Wohl fanden sich vereinzelte Individuen, die der allgemeinen Besessenheit und Instinktlüge widerstanden und die völkerverbindenden Gedanken verteidigten. Unter dem grassierenden Einfluß eines systematisch gezüchteten Rassenhasses aber blieben sie machtlos, verhöhnt und beiseite geworfen. Größere Gruppen, die zur Vernunft rufen konnten, fanden sich nicht, und das ist das Trostlose unserer heutigen Situation, daß wir jetzt, wo Niederlage und Not uns drängen, gezwungen sind, mit unzureichenden Mitteln und unter schärfster Zensur in wenigen Jahren das nachzuholen, was ganze Generationen versäumt und verabschiedet haben. Nichts wäre verkehrter, als wenn man von einzelnen Taten spontanen Rebellentums, als wenn man von Männern wie Liebknecht, Adler und Nicolai Rückschlüsse zöge auf gleichgesinnte Parteien und Zirkel; von opfermütigen Idealisten auf eine Bewegung größeren Umfangs. Der Freiheitsgedanke ist spärlich entwickelt. Die Vorurteile, in einem Jahrtausend verankert, haben das Volk dem Fordern entwöhnt, und ehe die traurige Tatsache durch weithin leuchtende Taten kollektiver Natur widerlegt ist, wird man nur mit der äußersten Vorsicht einen wesentlichen Gesinnungsumschwung erwarten und daran Hoffnungen knüpfen dürfen. Auch dieser Almanach zeigt nur Geschriebenes. Das ist wenig genug. Von den Aufrufen und Protesten, die er enthält, ist keiner ursprünglich in deutscher Sprache verfaßt. Sie kommen von Tschechen, Südslawen, Belgiern und Russen. Doch dieser Almanach selbst mag gelten als einer der ersten Kollektivaufrufe deutscher Sprache gegen ein wildes System, das seine Rechte verwirkt hat und keine Nachsicht verdient. So mag man ihn nehmen und so ihn verbreiten.


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