Der Weg des Willens


Vom deutschen Volk rühmt Herr Rathenau wie von einem Rennpferd, daß es »bis an die äußerste Grenze der Kraft jede geforderte Leistung hergibt«. »Pflichtbewußtsein ist nicht der Ausdruck dieses Verhältnisses, noch weniger ist es blinder Gehorsam, weil freie Neigung mitspricht, am nächsten ist es kindlicher Folgsamkeit verwandt.« Wir wissen es, leider. In einem solchen Volke ist jede Mystifikation, sogar ein Walter Rathenau möglich. Denn man lasse sich nicht täuschen: er mystifiziert so bewußt, wie er im Frühjahr 1915 in einer Halle der A.E.G. die Leichenfeier seines Vaters zelebrierte.

Rathenau weiß: »Der Mangel an Stabilität, die Überraschungsgefahr, die aus plötzlich auftretenden undurchsichtigen und undurchdachten Zielen entsteht, verbunden mit stärkster militärischer Macht, feudaler Atmosphäre und der fast widerstandslosen Lenksamkeit eines vertrauensseligen Volkes: das ist die Gruppe der Voraussetzungen, die unsere Gegner mit dem Namen Militarismus bezeichnet haben.« Doch das hindert ihn nicht, diese Mächte für seinen Ehrgeiz auszubeuten und dadurch die Nation weiter zu verdächtigen. Er weiß, »in Europa leben heute wohl tausend Menschen, deren Augen sehend geworden sind. Sie tragen in sich den Maßstab einer neuen Wertung und mehr: ihnen ist der verhängnisvolle Blick verliehen, der das Menschliche wie einen Kristall durchdringt.« Aber er scheint nicht zu fürchten, daß die »tausend Menschen« ihm auf die Finger sehen. Er liefert die letzten Reste individueller Freiheit der Preußifikation aus; er entwertet zu diesem Zweck den letzten Rest von Moralität, der den Deutschen geblieben ist. Er fürchtet nicht die Kirche der Intelligenz, deren limbus patrum das große menschliche Frankreich ist. Er ist unerschütterlich Repräsentant jenes egozentrischen, deutschen Deliriums, das alles Unglück der Welt provoziert hat.


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