Die Nationalversammlung
(7.12.1918)
Der erste Akt der sogenannten Revolution ist abgeschlossen und — verpfuscht. Der Mangel an wirklich unterrichteten Persönlichkeiten, der Mangel an politischem Sinn und einer ausgedehnten Verständigung, der Mangel nicht zuletzt an einem einheitlichen Plan jener wenigen deutschen Republikaner, denen die Wahrheit über die Karriere geht und das Prinzip über den Opportionismus, haben verhindert, im günstigen Augenblick — den ersten acht Tagen nach dem Sturze Wilhelms II. — einheitliche Maßnahmen zu treffen und das Wiederaufkommen der Reaktion zu vereiteln. Diese Maßnahmen mußten bestehen in folgenden 6 Punkten. 1. Verhaftung des Kaisers und der obersten Heeresleitung. 2. Verhaftung der Schuldigen des Auswärtigen Amtes und der für den Kriegsbeginn verantwortlichen Männer. 3. Aufhebung der volksfeindlichen Presse und Verbot jeglicher Beschimpfung eines feindlichen Volkes oder einer feindlichen Regierung. 4. Bekenntnis zur Schuld am Ausbruch des Krieges (die Spatzen pfeifen unsere Kriegsschuld vom Dach, es bedarf für die Hauptübeltäter nicht erst einer Untersuchungskommission). 5. Bekenntnis zur Niederlage und völlige Aufklärung über die materielle und moralische Bedeutung dieser Tatsache. 6. Erklärung für die Reichseinheit und die Konstituante.
Keiner dieser 6 Punkte wurde mit Zustimmung einer größeren Anzahl vertrauenswürdiger Führer proklamiert. Das bricht der schönen Revolution den Hals. Das alte System hat sich nicht nur fürs Nächste behauptet. Es dekretiert frecher von Tag zu Tag, und schamloser als je sind die Lügen unterwegs. Vom Volke ist nicht zu erwarten, daß es das Spiel durchschaut. Aber die Führer sollten sich fester als je zusammenschließen, um jenen skrupellosen Dunkelmännern, die hinter den Kulissen die Fäden ziehen, ihren großen Coup, die zu frühe Berufung der Nationalversammlung, aus der Hand zu schlagen.
Wir wissen aus einer Erklärung Eisners, daß 90% der Bevölkerung nicht nach der Nationalversammlung »schreien«. Wir wissen gerade von ihm, daß es eine elende Pressemeute und das Schuldbewußtsein ist, was unter dem Vorwande, die gefährdete Reichseinheit zu retten und das rechte Rheinufer vor einer weiteren Invasion zu bewahren, das Volk und die zurückkehrenden Soldatenmassen zu betrügen sucht.
Es ist nicht wahr, daß die Entente auf Einberufung der Konstituante dringt. Die Entente will zwar keine Anarchie, aber auch keine Verbrecher am Ruder und keine Helfershelfer von Verbrechern, sondern lautere, aufrichtige Männer.
Es ist nicht wahr, daß die Entente mit einer Fortsetzung des Krieges droht, nur weil bis zum 17. Dezember die politische Lage nicht geklärt und eine das ganze Volk repräsentierende Regierung nicht geschaffen ist.
Es ist nicht wahr, daß sich ein Rache- und Vergeltungsgeist der freien Völker bemächtigt hat. Man denkt nicht daran, außerhalb der Folgen, die eine unverantwortliche deutsche Regierung heraufbeschworen hat, das zerquälte und noch immer getäuschte und mißbrauchte Volk zu treffen.
Wir können vielmehr — aus ebenso »intimer Kenntnis« der Sachlage wie Herr Prof. F. W. Förster — versichern, daß man es für angebracht hält, die völlige Rückkehr der Truppen und die Bekanntgabe der Präliminarien abzuwarten.
In der moralischen Haltung unserer Feinde ist eine Gewähr geboten, daß man ein Volk, das sich gegen seine verderblichen Führer wendet und dadurch Europa vor der Fäulnis rettet, in seiner äußersten Notlage nicht zugrunde gehen läßt.
In der moralischen Haltung unserer Feinde ist eine Gewähr geboten, daß man auf die opfermutige Mitarbeit eines aufrichtigen und bereuenden Volkes von 70 Millionen im Aufbau einer neuen Welt nicht leichthin und ohne die strengste Erwägung verzichten wird.
Es wird nichts mehr ausgerichtet mit Hinterlist, Hohn und Trug. In dieser Welt wird gesiegt und gekämpft mit Wahrheit, Recht, Güte und Liebe.
Die erste Bedingung aber einer Rettung unserer moralischen Existenz — und es gibt keine andere Existenz, die nicht beruht auf ihr — ist die billige Anerkennung historischen Unrechts. Werft Eure Bismarcktürme um, Krieg werdet Ihr nie mehr führen. Verbrennt Euren hölzernen Hindenburg. Der Winter wird kalt. Was soll dieser Götze? Berechnet Euch, was Ihr zu zahlen habt. Und denkt daran, wo Ihr es hernehmen werdet. Ihr, Volk; nicht Ihr, Börsianer und Kriegsspekulanten, die die Millionen eingeheimst haben. Wie könnt Ihr noch stolz sein auf Eure Waffenerfolge? Ihr habt für die schlechteste Sache der Welt gekämpft und alles verspielt dabei.
Man betrügt Euch, zum zweiten Male, wie man Euch 1914 betrogen hat. Man hofft die Nationalversammlung zu gestalten zu einem Generalprotest gegen die »Vergewaltigung«, gegen den »Vernichtungswillen«, gegen den »wehrlosen Versuch, Euch das Letzte zu nehmen und Euch dem Hungertod auszuliefern«. Und man wird Euch damit um den Völkerbund bringen. Man hofft, die preußische Monarchie zu behalten und sogar das feigste aller Fürstenhäuser, die Hohenzollern. Man hofft, die großen Vermögen zu retten und Euch zur Zwangsarbeit einzuspannen. Man hofft, Eure Wut auf den Feind abzulenken, um so dem Gericht zu entgehen.
Die ganze Welt ist sich einig darüber, daß nicht nur Wilhelm II. und seine Familie, sondern das ganze System der Monarchie, die Junker und die Alldeutschen, die Professoren und Journalisten bis herab zum traurigen Verseschmierer Euch in den Krieg gehetzt haben.
Macht Eure Augen auf! Ihr seid machtlos gegen die Meinung der ganzen Welt. Jede Lüge kostet Euch Blutschweiß, Ehre und Brot. Drängt Eure Staatsmänner, daß sie Euch sagen, wie Eure Rechnung steht. Glaubt nicht, daß über den Frieden lange verhandelt wird. Elsaß-Lothringen ist verloren. Auch das Rheinland wird abfallen, wenn Ihr nicht Rechenschaft fordert. Es wird der Moral der Alliierten nicht standhalten können. Zu dieser Einsicht bedarf es keiner Nationalversammlung. Drängt darauf, daß Ihr die Präliminarien kennenlernt, und die Männer auch, die sie verschuldet haben. Bis zur Nationalversammlung solltet Ihr über all diese Dinge im klaren sein. Diese Versammlung muß ein Gerichtshof werden. Wendet Euch gegen Berlin und laßt Euch nicht länger am Gängelband führen von einer patzigen Junkerclique; von Herren wie Solf, Erzberger, Scheidemann, hinter denen der Wucherverein und die Engros-Schieber stehen. Von Männern, deren Namen durch alle Gassen gezogen sind und die Euch nichts Neues zu sagen haben. Fordert Listen der Schuldigen, statt Wählerlisten. Wie viele Schinder gibt es in Deutschland? Wie viele Lügner? Wie viele Kriegslieferanten und Volksspekulanten? Das alles ist wichtig zu wissen.
Versucht es einmal mit der Wahrheit, mit dem Zweifel statt mit dem Vertrauen! Versucht es von Euren »Feinden«, die doch nun einmal Freiheit und Moral vertreten, nicht stets das Schlimmste, sondern das Beste zu glauben, von Euren Zeitungsschreibern aber das Gegenteil. Und Ihr werdet lernen, selbst Politik zu machen. Wer vom Feinde schlecht spricht, sollte zu büßen haben. Denn vom Feinde heute noch schlecht sprechen, heißt die Nation gefährden, heißt es mit denen verderben, ohne die Ihr verhungern und umkommen müßt in einem riesenhaften nationalen Arbeitshaus.
Die freien Völker aber warnen wir vor dieser deutschen Nationalversammlung, die da zu schnell zu kommen droht. Sie wird einem Volke von etlichen Dutzend Millionen im Herzen Europas den Rachegedanken einimpfen und dadurch Europa verpesten für unabsehbare Zeit. Sie wird es zustande bringen, die Schuldfrage zu eskamotieren und Zustände zu schaffen, die eine Explosion nach sich ziehen. Sie wird die Sklaverei einführen in einem dem ganzen Jahrhundert unwürdigen Maße. Sie wird, den tausendjährigen Fatalismus des heiligen römischen Reiches benützend, das Ungeheuerliche vollbringen, ein großes, unwissendes Volk, dessen moralische Instinkte zerbrochen sind, bis aufs Blut auszusaugen.
Wir dringen darauf, über die nach Gerechtigkeit harten und demütigenden Friedensbedingungen schon jetzt keinen Zweifel mehr zu lassen. Wir dringen darauf, eine Liste der Schuldigen auszuarbeiten und die Auslieferung zu verlangen. Wir wenden uns an den Sitz und Ausgangspunkt der moralischen Revolution, Paris, zu verhindern, daß die geplante voreilige Berufung der deutschen Versammlung, die sich nach Kassel begeben will, um dort das Jubiläum der Gefangennahme Napoleons III. zu feiern, den letzten Rest edlen Freiheitsgeistes und jene spärliche Minorität vergewaltigt, die frei von Dünkel und jenseits von diesem Parademarsch schmutziger Seelen selbst hier noch der Menschheit dient.