Das Ziel


Rathenaus Ziel, wenn er seine intelligible Freiheit befragt, ist der Botschafterposten in London. In seinem Buch »Von kommenden Dingen« aber ist das Ziel einmal »die menschliche Freiheit«, ein andermal »der materiell unbeschränkte Staat«. Das ist also für ihn ein und dasselbe. Freiheit definiert er als »Überwindung aller mechanisierten Materialität nach deren Durchdringung mit Geist, Seele, Glaube und Verantwortung«. (Verantwortung der Freiheit gegenüber? Nein, gegenüber dem Staat). Der materiell unbeschränkte Staat soll Zustandekommen, und zwar dadurch, daß der preußische Feudalismus die kommunistischen Ideen und die Plutokratie säkularisiert. Was für einen Vorteil hat der Staat davon? Er nimmt auf diese Weise dem Klassenkampf die Spitze und gelangt gleichzeitig zu unerhörtem Reichtum, den er je nachdem für Kulturgüter (in Preußen!), oder für eine nie dagewesene Kriegswirtschaft verwenden kann. Man sieht: die Durchdringung mit Geist, Seele, Glaube und Verantwortung bedeutet, simpel ausgedrückt, Preußifizierung des Wirtschaftsbetriebs. Und die sozialistischen Ideen bilden (denk es, marxistische Seele!), den ideologischen Überbau. Denn vom Sozialismus, wie er ihn kennt, weiß Rathenau dem erstaunten Leser zu berichten, »daß er niemals die Herzen der Menschen entflammt hat«, daß »die Summe seines Waltens in der mächtigsten Steigerung des reaktionären Geistes, in der Zertrümmerung des liberalen Gedankens und in der Entwertung des Freiheitsgefühls besteht«. Wogegen er findet: »ein echter herrschender Adel, ein regierendes Patriziat muß geschlossen bleiben; seine Vermischung ist Untergang, seine Verarmung Ruin«. Wenn auch »transzendental der Satz vom Machtanspruch des Staates nicht unbedingt beweisbar ist«, so ist Herr Rathenau doch Anhänger des monarchistischen Gedankens aus »angeborener Empfindung und der Überzeugung, daß an der Spitze staatlicher Macht ein Geweihter, nicht der Arrivierte einer glücklichen Karriere [etwa Rathenau selbst] stehen soll«. Um aber die absolute Herrschaft der Feudalschicht zu sichern, ist es »weder nötig, daß die gesamte Armee, noch daß die gesamte Beamtenschaft von Gliedern der Feudalschicht durchsetzt sei. Der Bestandteil muß groß und einheitlich genug, die Bevorzugung genügend ausgesprochen sein, um Nacheiferung und Nachahmung bis in entfernte Landesteile zu sichern«. Gewiß, Herr Rathenau. »Der preußische Subalternoffizier findet in unserer Kenntnis der Vergangenheit und Gegenwart nicht seinesgleichen«. Gewiß. »Und so schließt sich der Zirkel, indem die Dynastie von neuem die Bestätigung dafür erhält, daß sie nur auf die Kaste, nicht auf das Volk sich stützen kann«. Hat man das Ziel verstanden? Der Kaiser soll in Zukunft nicht mehr »lieber Jude«, sondern »mein liebster Jude« sagen.


 © textlog.de 2004 • 09.10.2024 08:35:31 •
Seite zuletzt aktualisiert: 02.05.2008 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright   Theater, Kunst und Philosophie  Geschichte und Politik