Brüderlichkeitsethik und Kunst


Wie zu der stärksten irrationalen Macht des persönlichen Lebens gerät nun die ethische, speziell die Brüderlichkeitsreligiosität auch zur Sphäre der Kunst in tiefe innere Spannung. Die ursprüngliche Beziehung beider zueinander ist freilich die denkbar intimste. Idole und Ikonen aller Art, die Musik als Mittel der Ekstase oder des Exorzismus oder apotropäischer Kulthandlungen, als heilige Sänger, als Zauberer, die Tempel und Kirchen als größte künstlerische Bauten, die Paramente und Kirchengeräte aller Art als Hauptobjekte der kunstgewerblichen Arbeit machen die Religion zu einer unerschöpflichen Quelle künstlerischer Entfaltungsmöglichkeit. Je mehr aber die Kunst als eine eigengesetzliche Sphäre sich konstituiert, – ein Produkt der Laienbildung, – desto mehr pflegt sie gegenüber den religiös-ethischen ganz disparaten Rangordnungen der Werte, welche damit konstituiert werden, hervorzutreten. Alle unbefangene rezeptive Stellung zur Kunst geht zunächst von der Bedeutsamkeit des Inhalts aus und dieser kann Gemeinschaft stiften. Das spezifisch Künstlerische überhaupt bewußt zu entdecken, ist intellektualistischer Zivilisation vorbehalten. Eben damit aber schwindet das Gemeinschaftstiftende der Kunst ebenso wie ihre Verträglichkeit mit dem religiösen Erlösungswillen. Nicht nur wird dann jene innerweltliche Erlösung, welche die Kunst nur rein als Kunst zu geben beansprucht, als widergöttlich und jeder Erlösung von der ethischen Irrationalität der Welt feindlich von der ethischen Religiosität ebenso wie von der echten Mystik perhorresziert und ist vollends der eigentlichen Askese jede Hingabe an künstlerische Werte rein als solche eine bedenkliche Verletzung der rationalen Systematisierung der Lebensführung. Sondern noch mehr steigert sich die Spannung mit Zunahme der dem Intellektualismus eigenen, der ästhetischen nachgebildeten Haltung in ethischen Dingen. Die Ablehnung der Verantwortung für ein ethisches Urteil und die Scheu vor dem Schein beschränkter Traditionsgebundenheit, wie sie intellektualistische Zeitalter hervorbringen, veranlaßt dazu, ethisch gemeinte in ästhetisch ausgedeutete Urteile umzuformen (in typischer Form: »geschmacklos« statt »verwerflich«). Aber die subjektivistische Inappellabilität jedes Geschmacksurteils über menschliche Beziehungen, wie es in der Tat der Kultus des Ästhetentums anzuerziehen pflegt – im Gegensatz zur religiös- ethischen Norm, der sich der Einzelne, ethisch ablehnend, aber im Wissen von der eigenen Kreatürlichkeit menschlich miterlebend, für sich selbst ebenso unterstellt wie denjenigen, dessen Tun er im Einzelfall beurteilt, und deren Berechtigung und Konsequenzen vor allem dem Prinzip nach diskussionsfähig erscheinen –, kann von der Religiosität sehr wohl als eine tiefste Form von spezifischer Lieblosigkeit, verbunden mit Feigheit, angesehen werden. Jedenfalls bereitet der ästhetischen Stellungnahme als solcher die konsequente Brüderlichkeitsethik, welche ihrerseits stets direkt antiästhetisch orientiert ist, keine Stätte und umgekehrt gilt das gleiche.

Die so bedingte religiöse Entwertung der Kunst geht naturgemäß im ganzen ziemlich genau parallel mit der Entwertung der magischen, orgiastischen, ekstatischen und ritualistischen Elemente der Religiosität zugunsten von asketischen und spiritualistisch- mystischen. Ferner mit dem rationalen und literarischen Charakter der Priester- und Laienbildung, wie ihn eine Buchreligion stets nach sich zu ziehen pflegt. Vor allem aber wirkt bei der eigentlichen Prophetie zweierlei in antiästhetischer Richtung. Einmal die ihr stets selbstverständliche Ablehnung der Orgiastik und, meist, der Magie. Die ursprünglich magisch bedingt gewesene jüdische Scheu vor dem »Bildnis und Gleichnis« deutet die Prophetie spiritualistisch aus ihrem absolut überweltlichen Gottesbegriff heraus um. Und irgendwann zeigt sich dann die Spannung der zentral ethisch religiösen Orientierung der prophetischen Religion gegen das »Menschenwerk«, die aus dessen, vom Propheten aus gesehen, Scheinerlösungsleistung folgt. Die Spannung ist um so unversöhnlicher, je überweltlicher und gleichzeitig je heiliger der prophetisch verkündete Gott vorgestellt wird.

Auf der anderen Seite findet sich die Religiosität immer wieder vor die Empfindung der unablehnbaren »Göttlichkeit« künstlerischer Leistungen gestellt und gerade die Massenreligion ist auf »künstlerische« Mittel für die erforderliche Drastik ihrer Wirkungen immer wieder direkt hingewiesen und zu Konzessionen an die überall magisch-idolatrischen Massenbedürfnisse geneigt. Ganz abgesehen davon, daß eine organisierte Massenreligiosität nicht selten mit der Kunst durch ökonomische Interessen eng verknüpft ist, wie z.B. bei dem Ikonenhandel der byzantinischen Mönche, welche Gegner der, auf das bilderstürmerische, weil aus den Grenzprovinzen des damals noch streng spiritualistischen Islâm rekrutierte Heer gestützten, cäsaropapistischen Kaisergewalt waren, während diese ihrerseits umgekehrt gerade durch Abschneidung dieser Verdienstquelle diesem gefährlichsten Gegner ihrer Kirchenherrschaftspläne die Existenz untergraben wollte. Und innerlich führt von jeder orgiastischen oder ritualistischen Stimmungsreligiosität, aber auch von der auf mystische Sprengung der Individuation ausgehenden Liebesreligiosität bei aller Heterogenität des letztlich gemeinten »Sinnes« psychologisch der Weg äußerst leicht zur Kunst zurück; von der ersteren besonders zu Sang und Musik, von der zweiten zur bildenden Kunst, von der letzten zur Lyrik und Musik. Alle Erfahrungen, von der indischen Literatur und Kunst und den weltoffenen sangesfrohen Sufis bis zu den Liedern des Franziskus und den unermeßlichen Einflüssen religiöser Symbolik und gerade mystisch bedingter Stimmungen, zeigen diesen Zusammenhang. Aber nicht nur die einzelnen Formen der empirischen Religiosität verhalten sich grundverschieden zur Kunst, sondern innerhalb jeder auch deren verschiedene Strukturformen, Schichten und Träger: Propheten anders als Mystagogen und Priester, Mönche anders als fromme Laien, Massenreligionen anders als Virtuosensekten, und von diesen die asketischen sehr anders und zwar im Effekt naturgemäß prinzipiell kunstfeindlicher als die mystischen. Dies gehört nicht mehr in unseren Zusammenhang. Ein wirklicher innerer Ausgleich religiöser und künstlerischer Stellungnahme aber, dem letzten (subjektiv gemeinten) Sinne nach, wird allerdings zunehmend erschwert, wo immer das Stadium der Magie oder des reinen Ritualismus endgültig verlassen ist.

Für uns ist nur wichtig die Bedeutung der Ablehnung aller eigentlich künstlerischen Mittel durch bestimmte, in diesem Sinn spezifisch rationale Religionen, in starkem Maße im Synagogengottesdienst und dem alten Christentum, dann wieder im asketischen Protestantismus. Sie ist, je nachdem, Symptom oder Mittel der Steigerung des rationalisierenden Einflusses einer Religiosität auf die Lebensführung. Daß das zweite Gebot geradezu die entscheidende Ursache des jüdischen Rationalismus sei, wie manche Vertreter einflußreicher jüdischer Reformbewegungen annehmen, geht wohl zu weit. Daß aber die systematische Verdammung aller unbefangenen Hingabe an die eigentlichen Formungswerte der Kunst, deren Wirksamkeit ja durch Maß und Art der Kunstproduktivität der frommen jüdischen und puritanischen Kreise genügend belegt ist, in der Richtung intellektualistischer und rationaler Lebensmethodik wirken muß, ist andererseits nicht im mindesten zu bezweifeln.


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Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
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