VIII.2. Die Einbildungskraft der Menschen ist allenthalben organisch und klimatisch; allenthalben aber wird sie von der Tradition geleitet
Niemand würde mir's danken, wenn ich fortführe, die Phantasien mehrerer Völker also zu zeichnen. Fände sich jemand, der dies Reich der Einbildungen, den wahren Limbus der Eitelkeit, der unsere Erde umgibt, zu durchreisen Lust hätte, so wünschte ich ihm den ruhigen Bemerkungsgeist, der zuerst frei von allen Hypothesen der Übereinstimmung und Abstammung, allenthalben nur wie auf seinem Ort wäre und auch jede Torheit seiner Mitbrüder lehrreich zu machen wüßte. Was ich auszuzeichnen habe, sind einige allgemeine Wahrnehmungen aus diesem lebendigen Schattenreich phantasierender Völker.
1. Überall charakterisieren sich in ihm Klimate und Nationen. Man halte die grönländische mit der indischen, die lappländische mit der japanischen, die peruanische mit der Negermythologie zusammen: eine völlige Geographie der dichtenden Seele. Der Brahmine würde sich kaum ein Bild denken können, wenn man ihm die Voluspa der Isländer vorläse und erklärte; der Isländer fände beim Wedam sich ebenso fremde. Jeder Nation ist ihre Vorstellungsart um so tiefer eingeprägt, weil sie ihr eigen, mit ihrem Himmel und ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entsprossen, von Vätern und Urvätern auf sie vererbt ist. Wobei ein Fremder am meisten staunt, glauben sie am deutlichsten zu begreifen; wobei er lacht, sind sie höchst ernsthaft. Die Indier sagen, daß das Schicksal des Menschen in sein Gehirn geschrieben sei, dessen feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch des Verhängnisses darstellten; oft sind die willkürlichsten Nationalbegriffe und Meinungen solche Hirngemälde, eingewebte Züge der Phantasie vom festesten Zusammenhange mit Leib und Seele.
2. Woher dieses? Hat jeder einzelne dieser Menschenherden sich seine Mythologie erfunden, daß er sie etwa wie sein Eigentum liebe? Mitnichten. Er hat nichts in ihr erfunden: er hat sie geerbt. Hätte er sie durch eignes Nachdenken zuwege gebracht, so könnte er auch durch eignes Nachdenken vom Schlechtern zum Bessern geführt werden; das ist aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofer142) es einer ganzen Schar tapfrer und kluger Abiponer vorstellte, wie lächerlich sie sich vor den Drohungen eines Zauberers, der sich in einen Tiger verwandeln wollte und dessen Klauen sie schon an sich zu fühlen meinten, entsetzten: »Ihr erlegt«, sprach er zu ihnen, »täglich im Felde wahre Tiger, ohne euch darüber zu entsetzen; warum erblasst ihr so feige über einen eingebildeten, der nicht da ist?« - »Ihr Väter«, sprach ein tapfrer Abipone, »habt von unsern Sachen noch keine echten Begriffe. Die Tiger auf dem Felde fürchten wir nicht, weil wir sie sehen; da erlegen wir sie ohne Mühe. Die künstlichen Tiger aber setzen uns in Angst, eben weil wir sie nicht sehen und also auch nicht zu töten vermögen.« Mich dünkt, hier liegt der Knoten. Wären uns alle Begriffe so klar wie Begriffe des Auges; hätten wir keine andern Einbildungen, als die wir von Gegenständen des Gesichts abgezogen hätten und mit ihnen vergleichen könnten: so wäre die Quelle des Betruges und Irrtums, wo nicht verstopft, so doch wenigstens bald erkennbar. Nun aber sind die meisten Phantasien der Völker Töchter des Ohrs und der Erzählung.
Neugierig horchte das unwissende Kind den Sagen, die, wie Milch der Mutter, wie ein festlicher Wein des väterlichen Geschlechts, in seine Seele flossen und sie nährten. Sie schienen ihm, was es sah, zu erklären: dem Jünglinge gaben sie Bericht von der Lebensart seines Stammes und von seiner Väter Ehre; sie weihten den Mann national und klimatisch in seinen Beruf ein, und so wurden sie auch untrennbar von seinem ganzen Leben. Der Grönländer und Tunguse sieht lebenslang nun wirklich, was er in seiner Kindheit eigentlich nur reden hörte, und so glaubt er's als eine gesehene Wahrheit. Daher die schreckhaften Gebräuche so vieler der entferntesten Völker bei Mond- und Sonnenfinsternissen; daher ihr fürchterlicher Glaube an die Geister der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo irgend Bewegung in der Natur ist, wo eine Sache zu leben scheint und sich verändert, ohne daß das Auge die Gesetze der Veränderung wahrnimmt, da hört das Ohr Stimmen und Rede, die ihm das Rätsel des Gesehenen durchs Nichtgesehene erklären; die Einbildungskraft wird gespannt und auf ihre Weise, d. i. durch Einbildungen, befriedigt. Überhaupt ist das Ohr der furchtsamste, der scheueste aller Sinne; es empfindet lebhaft, aber nur dunkel; es kann nicht zusammenhalten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn seine Gegenstände gehn im betäubenden Strom vorüber. Bestimmt, die Seele zu wecken, kann es ohne Beihülfe der andern Sinne, insonderheit des Auges, sie selten bis zur deutlichen Genugtuung belehren.
3. Man sieht daher, bei welchen Völkern die Einbildungskraft am stärksten gespannt sein müsse. Bei solchen nämlich, die die Einsamkeit lieben, die wilde Gegenden der Natur, die Wüste, ein felsichtes Land, die sturmreiche Küste des Meers, den Fuß feuerspeiender Berge oder andere wunder- und bewegungvolle Erdstriche bewohnen. Von den ältesten Zeiten an ist die Arabische Wüste eine Mutter hoher Einbildungen gewesen, und die solchen nachhingen, waren meistenteils einsame, staunende Menschen. In der Einsamkeit empfing Mahomed seinen Koran; seine erregte Phantasie verzückte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel, Seligen und Welten; nie ist seine Seele entflammter, als wenn sie den Blitz der einsamen Nacht, den Tag der großen Wiedervergeltung und andere unermeßliche Gegenstände malt. Wo und wie weit hat sich nicht der Aberglaube der Schamanen verbreitet? Von Grönland und dem dreifachen Lappland an über die ganze nächtliche Küste des Eismeers tief in die Tatarei hinab, nach Amerika hin und fast durch diesen ganzen Weltteil. Überall erscheinen Zauberer, und allenthalben sind Schreckbilder der Natur die Welt, in der sie leben. Mehr als drei Vierteile der Erde sind also dieses Glaubens; denn auch in Europa hangen die meisten Nationen finnischen und slawischen Ursprunges noch an den Zaubereien des Naturdienstes, und der Aberglaube der Neger ist nichts als ein nach ihrem Genius und Klima gestalteter Schamanismus. In den Ländern der asiatischen Kultur ist dieser zwar von positiven künstlichern Religionen und Staatseinrichtungen verdrängt worden; er läßt sich aber blicken, wo er sich blicken lassen darf, in der Einsamkeit und beim Pöbel, bis er auf einigen Inseln des Südmeers wieder in großer Macht herrscht. Der Dienst der Natur hat also die Erde umzogen, und die Phantasien desselben halten sich an jeden klimatischen Gegenstand der Übermacht und des Schreckens, an den die menschliche Notdurft grenzt. In ältern Zeiten war er der Gottesdienst beinah aller Völker der Erde.