VIII.4. Die Empfindungen und Triebe der Menschen sind allenthalben dem Zustande, worin sie leben, und ihrer Organisation gemäß; allenthalben aber werden sie von Meinungen und von der Gewohnheit regiert

 

Selbsterhaltung ist das erste, wozu ein Wesen da ist: vom Staubkorn bis zur Sonne strebt jedes Ding, was es ist, zu bleiben; dazu ist den Tieren Instinkt eingeprägt, dazu ist dem Menschen sein Analogon des Instinkts oder der Vernunft gegeben. Gehorchend diesem Gesetz, sucht er sich, durch den wilden Hunger gezwungen, überall seine Speise; er strebt, ohne daß er weiß warum und wozu, von Kindheit auf nach Übung seiner Kräfte, nach Bewegung. Der Matte ruft den Schlummer nicht, aber der Schlummer kommt und erneuert ihm sein Dasein; dem Kranken hilft, wenn sie kann, die innere Lebenskraft oder sie verlangt wenigstens und ächzt. Seines Lebens wehrt sich der Mensch gegen alles, was ihn anficht, und auch ohne daß er's weiß, hat die Natur in ihm und um ihn her Anstalten gemacht, ihn dabei zu unterstützen, zu wahren, zu erhalten.

Es hat Philosophen gegeben, die unser Geschlecht dieses Triebes der Selbsterhaltung wegen unter die reißenden Tiere gesetzt und seinen natürlichen Zustand zu einem Stande des Kriegs gemacht haben. Offenbar ist viel Uneigentliches in dieser Behauptung Freilich, indem der Mensch die Frucht eines Baums bricht, ist er ein Räuber, indem er ein Tier tötet, ein Mörder, und wenn er mit seinem Fuß, mit seinem Hauch vielleicht einer zahllosen Menge ungesehener Lebendigen das Leben nimmt, ist er der ärgste Unterdrücker der Erde. Jedermann weiß, wie weit es die zarte indische sowie die übertriebne ägyptische Philosophie zu bringen gesucht hat, damit der Mensch ein ganz unschädliches Geschöpf werde, aber für die Spekulation vergebens. Ins Chaos der Elemente sehen wir nicht, und wenn wir kein großes Tier verzehren, verschlingen wir eine Menge kleiner Lebendiger im Wasser, in der Luft, der Milch, den Gewächsen.

Von dieser Grübelei also hinweg, stellen wir den Menschen unter seine Brüder und fragen: Ist er von Natur ein Raubtier gegen seinesgleichen, ein ungeselliges Wesen? Seiner Gestalt nach ist er das erste nicht und seiner Geburt nach das letzte noch minder. Im Schoß der Liebe empfangen und an ihrem Busen gesäuget, wird er von Menschen auferzogen und empfing von ihnen tausend Gutes, das er um sie nicht verdiente. Sofern ist er also wirklich in und zu der Gesellschaft gebildet; ohne sie konnte er weder entstehen noch ein Mensch werden. Wo Ungeselligkeit bei ihm anfängt, ist, wo man seine Natur bedrängt, indem er mit andern Lebendigen kollidiert; hier ist er aber wiederum keine Ausnahme, sondern wirkt nach dem großen Gesetz der Selbsterhaltung in allen Wesen. Lasst uns sehen, was die Natur für Mittel aussann, ihn dennoch auch hier, soviel sie konnte, befriedigend einzuschränken und den Krieg aller gegen alle zu hindern.

1. Da der Mensch das vielfach künstlichste Geschöpf ist, so findet auch bei keiner Gattung der Lebendigen eine so große Verschiedenheit genetischer Charaktere statt als beim Menschen. Der hinreißende, blinde Instinkt fehlt seinem feinen Gebilde; die Strahlen der Gedanken und Begierden hingegen laufen in seinem Geschlecht wie in keinem andern auseinander. Seiner Natur nach darf also der Mensch weniger mit andern kollidieren, da diese in einer ungeheuren Mannigfaltigkeit von Anlagen, Sinnen und Trieben bei ihm verteilt und gleichsam vereinzelt ist. Was einem Menschen gleich gültig vorkommt, zieht den andern, und so hat jedweder eine Welt des Genusses um sich, eine für ihn geschaffene Schöpfung.

2. Diesem divergierenden Geschlecht gab die Natur einen großen Raum, die reiche weite Erde, auf der die verschiedensten Erdstriche und Lebensweisen die Menschen zerstreuen sollten. Hier zog sie Berge, dort Ströme und Wüsten, damit sie die Menschen auseinander brächte; den Jägern gab sie den weiten Wald, den Fischern das weite Meer, den Hirten die weite Ebne. Ihre Schuld ist's also nicht, wenn Vögel, betrogen von der Kunst des Vogelstellers, in ein Netz flogen, wo sie einander Speise und Augen weghacken und den Atem verpesten; denn sie setzte den Vogel in die Luft und nicht ins Netz des Voglers. Seht jene wilden Stämme an, wie unwilde sie unter sich leben! Da neidet keiner den andern, da erwirbt sich und genießt jeder das Seine in Frieden. Es ist gegen die Wahrheit der Geschichte, wenn man den bösartigen, widersinnigen Charakter zusammengedrängter Menschen, wetteifernder Künstler, streitender Politiker, neidiger Gelehrten zu allgemeinen Eigenschaften des menschlichen Geschlechts macht; der größeste Teil der Menschen auf der Erde weiß von diesen ritzenden Stacheln und ihren blutigen Wunden nichts, er lebt in der freien Luft und nicht im verpestenden Hauch der Städte. Wer das Gesetz notwendig macht, weil es sonst Gesetzesverächter gäbe, der setzt voraus, was er erst beweisen sollte. Drängt die Menschen nicht in enge Kerker, so dörft ihr ihnen keine frische Luft zulächeln. Bringt sie nicht in künstliche Raserei, so dörft ihr sie durch keine Gegenkünste binden.

3. Auch die Zeiten, wenn Menschen zusammen sein mußten, verkürzte die Natur, wie sie sie verkürzen konnte. Der Mensch ist einer langen Erziehung bedürftig; aber alsdenn ist er noch schwach; er hat die Art des Kindes, das zürnt und wieder vergißt, das oft unwillig ist, aber keinen langen Groll nährt. Sobald er Mann wird, wacht ein Trieb in ihm auf, und er verläßt das Haus des Vaters. Die Natur wirkte in diesem Triebe: sie Stieß ihn aus, damit er sein eigen Nest bereite.

Und mit wem bereitet er dasselbe? Mit einem Geschöpf, das ihm so unähnlich-ähnlich, das ihm in streitbaren Leidenschaften so ungleichartig gemacht ist, als es im Zweck der Vereinigung beider nur irgend geschehen konnte. Des Weibes Natur ist eine andere als des Mannes; sie empfindet anders, sie wirkt anders. Elender, dessen Nebenbuhlerin sein Weib ist oder die ihn in männlichen Tugenden gar überwindet! Nur durch nachgebende Gute soll sie ihn beherrschen, und so wird der Zankapfel abermals ein Apfel der Liebe. -

 


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