VIII.3. Der praktische Verstand des Menschengeschlechts ist allenthalben unter Bedürfnissen der Lebensweise erwachsen; allenthalben aber ist er eine Blüte des Genius der Völker, ein Sohn der Tradition und Gewohnheit

 

Man ist gewohnt, die Nationen der Erde in Jäger, Fischer, Hirten und Ackerleute abzuteilen und nach dieser Abteilung nicht nur den Rang derselben in der Kultur, sondern auch die Kultur selbst als eine notwendige Folge dieser oder jener Lebensweise zu bestimmen. Vortrefflich, wenn diese Lebens weisen zuerst nur selbst bestimmt wären; sie ändern sich aber beinah mit jedem Erdstrich und verschlingen sich meistens so sehr ineinander, daß die Anwendung der reinen Klassifikation überaus schwer wird. Der Grönländer, der den Walfisch trifft, das Renntier jagt, den Seehund tötet, ist Fischer und Jäger, aber auf ganz andere Weise, als der Neger Fische fängt oder der Arauker auf den Wüsteneien der Andes jagt.

Der Beduin und der Mongole, der Lappe und Peruaner sind Hirten; wie verschieden aber voneinander, wenn jener Kamele, dieser Pferde, der dritte Renntiere, der vierte Alpakas und Lacmas weidet. Der Ackermann in Whidah und der Japanese sind einander so unähnlich als im Handel der Engländer und Sinese.

Ebensowenig scheint auch das Bedürfnis allein, selbst wenn Kräfte genug in der Nation da sind, die auf ihre Entwicklung warten, Kultur hervorbringen zu können; denn sobald sich die Trägheit des Menschen mit seinem Mangel abgefunden und beide das Kind hervorgebracht haben, das er Behaglichkeit nennt, verharret der Mensch in seinem Zustande und läßt sich kaum mit Mühe zur Verbesserung treiben. Es kommt also noch auf andere einwirkende Ursachen an, die die Lebensart eines Volks so oder anders bestimmten; hier indessen nehmen wir sie als bestimmt an und untersuchen, was sich in verschiednen derselben für tätige Seelenkräfte äußern.

Menschen, die sich von Wurzeln, Kräutern und Früchten nähren, werden, wenn nicht besondre Triebfedern der Kultur dazukommen, lange müßig und an Kräften eingeschränkt bleiben. In einem schönen Klima und von einem milden Stamm entsprossen, ist ihre Lebensart milde; denn warum sollten sie streiten, wenn ihnen die reiche Natur alles ohne Mühe darbeut? Mit Künsten und Erfindungen aber reichen sie auch nur an das tägliche Bedürfnis. Die Einwohner der Inseln, die die Natur mit Früchten, insonderheit mit der wohltätigen Brotfrucht nährte und unter einem schönen Himmel mit Rinden und Zweigen kleidete, lebten ein sanftes, glückliches Leben. Die Vögel, sagt die Erzählung, saßen auf den Schultern der Marianen und sangen ungestört; Bogen und Pfeile kannten sie nicht, denn kein wildes Tier foderte sie auf, sich ihrer Haut zu wehren. Auch das Feuer war ihnen fremde; ihr mildes Klima ließ sie ohne dasselbe behaglich leben. Ein ähnlicher Fall war's mit den Einwohnern der Karolinen und anderer glücklichen Inseln des Südmeers, nur daß in einigen die Kultur der Gesellschaft schon höher gestiegen war und aus mancherlei Ursachen mehrere Künste und Gewerbe vereint hatte. Wo das Klima rauher wird, müssen die Menschen auch zu härtern und mehreren Lebensarten ihre Zuflucht nehmen. Der Neuholländer verfolgt sein Känguruh und Opossum; er schießt Vögel, fängt Fische, ißt Yamwurzeln; er hat soviel Lebensarten vereinigt, als die Sphäre seiner rauhen Behaglichkeit fodert, bis diese sich gleichsam ründet und er nach seiner Weise in ihr glücklich lebt. So ist's mit den Neukaledoniern und Neuseeländern, die armseligen Feuerländer selbst nicht ausgenommen Sie hatten Kähne von Baumrinden, Bogen und Pfeile, Korb und Tasche, Feuer und Hütte, Kleider und Hacken: also die Anfänge von allen den Künsten, womit die gebildetsten Erdvölker ihre Kultur vollendet haben; nur bei ihnen, unter dem Joch der drückenden Kälte, im ödesten Felsenlande, ist alles noch der roheste Anfang geblieben. Die Kalifornier beweisen soviel Verstand, als ihr Land und ihre Lebensart gibt und fodert. So ist's mit den Einwohnern auf Labrador und mit allen Menschennationen am dürftigen Rande der Erde. Allenthalben haben sie sich mit dem Mangel versöhnt und leben in ihrer erzwungenen Tätigkeit durch erbliche Gewohnheit glücklich. Was nicht zu ihrer Notdurft gehört, verachten sie; so gelenk der Eskimo auf dem Meer rudert, so hat er das Schwimmen noch nicht gelernt.

Auf dem großen festen Lande unserer Erdkugel drängen sich Menschen und Tiere mehr zusammen: der Verstand jener wurde also durch diese auf mannigfaltigere Weise geübt. Freilich mußten die Bewohner mancher Sümpfe in Amerika auch zu Schlangen und Eidechsen, zum Iguan, Armadill und Alligator ihre Zuflucht nehmen; die meisten Nationen aber wurden Jagdvölker auf edlere Art. Was fehlt einem Nord- und Südamerikaner an Fähigkeit zum Beruf seines Lebens? Er kennt die Tiere, die er verfolgt, ihre Wohnungen, Haushaltungen und Listen und wappnet sich gegen sie mit Stärke, Verschlagenheit und Übung. Zum Ruhm eines Jägers, wie in Grönland eines Seehundfängers, wird der Knabe erzogen; hievon hört er Gespräche, Lieder, rühmliche Taten, die man ihm auch in Gebärden und begeisternden Tänzen vormalt. Von Kindheit auf lernt er Werkzeuge verfertigen und sie gebrauchen; er spielt mit den Waffen und verachtet die Weiber; denn je enger der Kreis des Lebens und je bestimmter das Werk ist, in dem man Vollkommenheit sucht, desto eher wird diese erhalten. Nichts also stört den strebenden Jüngling in seinem Lauf, vielmehr reizt und ermuntert ihn alles, da er im Auge seines Volks, im Stande und Beruf seiner Väter lebt. Wenn jemand ein Kunstbuch von den Geschicklichkeiten verschiedner Nationen zusammentrüge, so würde er solche auf unserm Erdboden zerstreut und jede an ihrem Platz blühend finden. Hier wirft sich der Neger in die Brandung, in die sich kein Europäer wagt; dort klettert er auf Bäume, wo ihn unser Auge kaum erreicht. Jener Fischer treibt sein Werk mit einer Kunst, als ob er die Fische beschwüre; dieser Samojede begegnet dem weißen Bär und nimmt's mit ihm auf; jenem Neger sind zwei Löwen nicht zuviel, wenn er Stärke und List verbindet. Der Hottentotte geht aufs Nasehorn und Flußpferd los; der Bewohner der Kanarieninseln gleitet auf den steilsten Felsen umher, die er wie ein Gems bespringt; die starke, männliche Tibetanerin trägt den Fremden über die ungeheuersten Berge der Erde. Das Geschlecht des Prometheus, das aus den Teilen und Trieben aller Tiere zusammengesetzt wurde, hat diese auch allesamt, das eine hie, das andere dort, an Künsten und Geschicklichkeiten überwunden, nachdem es diese alle von ihnen gelernt.

Daß die meisten Künste der Menschen von Tieren und der Natur gelernt sind, ist außer Zweifel. Warum kleidet sich der Mariane in Baumhüllen, und der Amerikaner und Papu schmückt sich mit Federn? Weil jener mit Bäumen lebt und von ihnen seine Nahrung holt; dem Amerikaner und Papu sind die bunten Vögel seines Landes das Schönste, das er sieht. Der Jäger kleidet sich wie sein Wild und baut wie sein Biber; andere Völker hangen wie Vögel auf den Bäumen oder machen sich auf der Erde ihre Hütten wie Nester. Der Schnabel des Vogels war dem Menschen das Vorbild zu Spieß und Pfeilen wie die Gestalt des Fisches zu seinem künstlich schwimmenden Boot. Von der Schlange lernte er die schädliche Kunst, seine Waffen zu vergiften; und die sonderbar weit verbreitete Gewohnheit, den Körper zu malen, war ebenfalls nach dem Vorbilde der Tiere und Vögel.

›Wie?‹ dachte er, ›diese sollten so schön geziert, so unterschieden geschmückt sein, und ich müßte mit einförmiger, blasser Farbe umhergehn, da mein Himmel und meine Trägheit keine Decken leidet?‹ Und so fing er an, sich symmetrisch zu sticken und zu malen; selbst bekleidete Nationen wollten dem Ochsen sein Horn, dem Vogel den Kamm, dem Bären den Schwanz nicht gönnen und ahmten sie nach Dankbar rühmen es die Nordamerikaner, daß ein Vogel ihnen den Mais gebracht; und die meisten klimatischen Arzneien sind offenbar den Tieren abgelernt. Allerdings gehörte zu diesem allen der sinnliche Geist freier Naturmenschen, die, mit diesen Geschöpfen lebend, sich noch nicht so unendlich erhaben über sie glaubten. Den Europäern wurde es schwer, in andern Weltteilen nur aufzufinden, was die Eingebornen täglich nützten; nach langen Versuchen mußten sie doch von jenen das Geheimnis erst erzwingen oder erbtteln.

 


 © textlog.de 2004 • 07.12.2024 03:12:46 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright