VI.1 Organisation der Völker in der Nähe des Nordpols

 

Noch ist es keinem Seefahrer gelungen, auf der Achse unserer Erde zu stehn35) und vielleicht vom Nordpol her einigen nähern Aufschluß der Konstruktion ihres Ganzen zu holen; indessen sind wir schon weit über die bewohnbare Erde hinübergelangt und haben Gegenden beschrieben, die man den kalten und nackten Eisthron der Natur nennen möchte. Hier sind die Wunderdinge unserer Erdschöpfung gesehen, die kein Anwohner des Äquators glauben würde, jene ungeheuren Massen schön gefärbter Eisklumpen, jene prächtigen Nordlichter, wunderbare Täuschungen des Auges durch die Luft, und bei der großen Kälte von oben die oft warmen Erdklüfte.36) In steilen, zerfallnen Felsen scheint sich der hervorgehende Granit viel weiter hinauf zu erstrecken, als er's beim Südpol tun konnte, so wie überhaupt dem größten Teil nach die bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemisphär ruht. Und da das Meer der erste Wohnplatz der Lebendigen war, so kann man das nordliche Meer mit der großen Fülle seiner Bewohner noch jetzt als eine Gebärmutter des Lebens und die Ufer desselben als den Rand betrachten, auf dem sich in Moosen, Insekten und Würmern die Organisation der Erdgeschöpfe anfängt. Seevögel begrüßen das Land, das noch weniges eignes Gefieder nährt; Meertiere und Amphibien kriechen hervor, um sich am seltnen Strahl der ländlichen Sonne zu wärmen. Mitten im regsten Getümmel des Wassers zeigt sich gleichsam die Grenze der lebendigen Erdeschöpfung.

Und wie hat sich die Organisation des Menschen auf dieser Grenze erhalten? Alles, was die Kälte an ihm tun konnte, war, daß sie seinen Körper etwas zusammendrückte und den Umlauf seines Bluts gleichsam verengte. Der Grönländer bleibt meistens unter fünf Fuß, und die Eskimos, seine Brüder, werden kleiner, je weiter nach Norden sie wohnen.37 Da aber die Lebenskraft von innen heraus wirkt, so ersetzte sie ihm an warmer und zäher Dichtigkeit, was sie ihm an emporstrebender Länge nicht geben konnte. Sein Kopf wurde in Verhältnis des Körpers groß, das Gesicht breit und platt, weil die Natur, die nur in der Mäßigung und Mitte zwischen zwei Extremen schön wirkt, hier noch kein sanftes Oval ründen und insonderheit die Zierde des Gesichts und, wenn ich so sagen darf, den Balken der Waage, die Nase, noch nicht hervortreten lassen konnte. Da die Backen die größere Breite des Gesichts einnahmen, so wurde der Mund klein und rund; die Haare blieben sträubig, weil, weiche und seidene Haare zu bilden, es an feinem, emporgetriebenen Saft fehlte; das Auge blieb unbeseelt. Gleichergestalt formten sich starke Schultern und breite Glieder, der Leib wurde blutreich und fleischig; nur Hände und Füße blieben klein und zart, gleichsam die Sprossen und äußersten Teile der Bildung. Wie die äußere Gestalt, so verhält sich auch von innen die Reizbarkeit und Ökonomie der Säfte. Das Blut fließt träger, und das Herz schlägt matter, daher hier der schwächere Geschlechtstrieb, dessen Reize mit der zunehmenden Wärme anderer Länder so ungeheuer wachsen. Spät erwacht derselbe: die Unverheirateten leben züchtig, und die Weiber müssen zur beschwerlichen Ehe fast gezwungen werden Sie gebären weniger, so daß sie die vielgebärenden, lüsternen Europäer mit den Hunden vergleichen. In ihrer Ehe sowie in ihrer ganzen Lebensart herrscht eine stille Sittsamkeit, ein zähes Einhalten der Affekten. Unfühlbar für jene Reizungen, mit denen ein wärmeres Klima auch flüchtigere Lebensgeister bildet, leben und sterben sie still und verträglich, gleichgültig- vergnügt und nur aus Notdurft tätig. Der Vater erzieht seinen Sohn mit und zu jener gefaßten Gleichgültigkeit, die sie für die Tugend und Glückseligkeit des Lebens achten, und die Mutter säugt ihr Kind lange und mit aller tiefen, zähen Liebe der Muttertiere. Was ihnen die Natur an Reiz und Elastizität der Fibern versagt hat, hat sie ihnen an nachhaltender, daurender Stärke gegeben und sie mit jener wärmenden Fettigkeit, mit jenem Reichtum an Blut, der ihren Aushauch selbst in eingeschloßnen Gebäuden erstickend warm macht, umkleidet.

Mich dünkt, es ist niemand, der hiebei nicht die einförmige Hand der organisierenden Schöpferin, die in allen ihren Werken gleichartig wirkt, gewahr werde. Wenn die menschliche Länge zurückbleibt, so bleibt es in jenen Gegenden die Vegetation noch viel mehr wenige, kleine Bäume wachsen, Moose und Gesträuche kriechen an der Erde. Selbst die mit Eisen beschlagne Meßstange kürzte sich im Frost; und es sollte sich nicht die menschliche Fiber kürzen? Trotz ihres inwohnenden organischen Lebens. Dies kann aber nur zurückgedrängt und gleichsam in einen kleinern Kreis der Bildung eingeschlossen werden abermals eine Analogie der Wirkung bei allen Organisationen. Die äußern Glieder der Seetiere und andern Geschöpfe der kalten Zone sind klein und zart; die Natur hielt, soviel möglich, alles zusammen in der Region der innern Wärme: die Vögel daselbst wurden mit dichten Federn, die Tiere mit einer sie umhüllenden Fettigkeit belegt, wie hier der Mensch mit seiner blutreichen, wärmenden Hülle. Auch von außen hat ihnen, und zwar aus einem und ebendemselben Principium aller Organisationen auf der Erde, die Natur das versagen müssen, was dieser Komplexion nicht diente. Würze würden ihren zur innern Fäulung geneigten Körper hinrichten, wie das ihnen zugebrachte Tollwasser, der Branntwein, so viele hingerichtet hat. Das Klima hat sie ihnen also versagt und zwingt sie dagegen in ihrem dürftigen Aufenthalt und bei der großen Liebe zur Ruhe, die ihr innerer Bau befördert, von außen zur Tätigkeit und Leibesbewegung, auf welche alle ihre Gesetze und Einrichtungen gebaut sind. Die wenigen Kräuter, die hier wachsen, sind blutreinigend und also gerade für ihr Bedürfnis; die äußere Luft ist in hohem Grad dephlogistisiert38, so daß sie selbst bei toten Körpern der Fäulung widersteht und ein langes Leben fördert. Gifttragende Tiere duldet die trockne Kälte nicht, und gegen die beschwerlichen Insekten schützt sie ihre Unempfindlichkeit, der Rauch und der lange Winter. So entschädigt die Natur und wirkt harmonisch in allem, was sie wirkt.

 


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