Tramnitz
| Beneath those rugged elms Where heaves the turf in many a mouldring heap, The rude forefathers of the hamlet sleep. Thomas Gray |
Eine halbe Meile nördlich von Trieplatz liegt Tramnitz, ebenfalls ein alt-Rohrsches Gut. Der Weg dahin hat denselben Einsamkeitscharakter wie die zu Beginn des vorigen Kapitels von mir geschilderte Landschaft. Die Dosseufer sind eben von einer ganz besonderen Tristheit, wenigstens soweit der obere Lauf des Flusses in Betracht kommt. All diese Strecken veranschaulichen in der Tat jenes märkische Landschaftsbild, das im allgemeinen weniger in der Wirklichkeit als in der Vorstellung der Mittel- und Süddeutschen existiert.
Dorf Tramnitz wirkt wie ein Kind des Bodens, auf dem es gewachsen. Es weckt ein Herbstgefühl. Und auch die Stelle, wo das Herrenhaus gelegen ist, ändert nichts an diesem Eindruck. Vielleicht wär es anders, wenn nicht der weiße, ziemlich weitschichtige Bau, vor dem ein paar mächtige Linden aufragen, eine wahre Mausoleumseinsamkeit um sich her hätte. Hat sich doch, seit dem Tode des Vorbesitzers, aus dem jetzt leerstehenden Herrenhause das Leben in ein abseits gelegenes einfaches Fachwerkhaus zurückgezogen, an dessen Schwelle wir von einer freundlichen alten Dame begrüßt und an einen mit Meißner Tassen besetzten Kaffeetisch geführt werden.
Die freundliche alte Dame ist »Tante Wilhelmine«. Sie verwaltet, neben anderem, auch den Anekdotenschatz des Hauses, und der Kaffee, von dem wir eben wohlgefällig nippen, wohin könnte er den Gang der Unterhaltung natürlicher hinüberleiten als zur Geschichte von »Tante Fiekchen«.
Eben diese, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts auf Tramnitz lebte, war um 1733, als Kronprinz Friedrich in Ruppin stand, eine hochbetagte Dame, die des Vorrechtes genoß, allen derb die Wahrheit sagen zu dürfen, am meisten den jungen Offizieren des Regiments Prinz Ferdinand, wenn diese zum Besuche herüberkamen. Einstmals kam auch der Kronprinz mit. Er ward inkognito eingeführt und da ihm »Tante Fiekchens« Kaffee, der wenig Aroma aber desto mehr Bodensatz hatte, nicht wohl schmecken wollte, so goß er ihn heimlich aus dem Fenster. Aber Tante Fiekchen wäre nicht sie selber gewesen, wenn sie es nicht auf der Stelle hätte merken sollen. Sie schalt denn auch heftig, und als sie schließlich hörte, wer eigentlich der Gescholtene sei, wurde sie nur noch empörter und rief: »Ah, so. Na, denn um so schlimmer. Wer Land und Leute regieren will, darf keinen Kaffee aus dem Fenster gießen. Sein Herr Vater wird wohl recht gehabt haben!« Übrigens wurden sie später die besten Freunde, schrieben sich, und wenn der König irgendeinen alten Bekannten aus dem Ruppinschen sah, unterließ er nie, sich nach Tante Fiekchen zu erkundigen.
Das Tramnitzer Haus umschließt manche alte Erzählung, manche anekdotische Überlieferung.
Unter den Familienbildern, die dichtgedrängt an den Wänden hängen, ist eines, das aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammt und der Tradition nach von Philipp Hackert herrührt. Es heißt: ausnahmsweise (was auch zutreffen würde) hab er hier ein Porträt gemalt. Das Bild stellt ein Fräulein von Rohr als junges, kaum erwachsenes Mädchen in dem Rokokokostüm jener Tage dar. Hackert soll sie geliebt haben. Wer will es heute noch feststellen! Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt übrigens eine Verwechslung der beiden Brüder Philipp und und Wilhelm Hackert vor. Philipp, der weitaus berühmtere, war Landschafter, Wilhelm Porträtmaler. Woraus sich auch das Vorhandensein eines Hackertschen Porträts an diesem Ort, aber von dem unberühmteren Bruder herrührend, am einfachsten erklären würde.
Der interessanteste Punkt, den Tramnitz aufzuweisen hat, ist der »alte Kirchhof«. Er liegt mitten im Dorfe, von der sich hier teilenden Straße rechts und links umfaßt, und macht außen und innen den Eindruck eines verwilderten Parks. Eichen, Linden, Akazien wachsen hoch auf, dazwischen Fliederbüsche, halb Strauchwerk, halb Unterholz, alles umschlungen und durchdrungen von Blumen und Unkraut, von Efeu und Hagebuttengestrüpp. Eine vollkommene Wildnis. Die Stelle, wo die alte Kirche stand, ist kaum noch wahrzunehmen, seitdem Moos und Farnkräuter über die Fundamente hinweggewachsen sind. Nur zwei Denkmäler, freilich auch sie halb versteckt, mahnen noch daran, daß hier einst begraben wurde. Das eine – ein Obelisk, der »dem theuren Andenken der besten Gattin und Tochter, Frau Margarethe v. Rohr, geb. Freiin zu Putlitz« errichtet wurde – trägt folgende Inschrift:
Sie ließ der Welt vergänglich Glück,
Ließ Schmerz und Elend hier zurück,
Drang, ewig frei von aller Noth
In's Freudenleben durch den Tod.
Wann einst von uns, in Gott vereint,
Der letzte auch hat ausgeweint,
Dann wird ein frohes Wiedersehn
Auf ewig unser Glück erhöhn.
Das andere Denkmal, um zehn Jahre älter, stellt den bekannten trauernden Knaben dar, der sich an eine Aschenurne lehnt. »Kindliche Ehrfurcht widmet dies Andenken.« Einer Inschrift am Sockel entnehmen wir, wem und wann es errichtet wurde: Hans Albrecht Friedrich v. Rohr, K. Preußischer Oberst, geboren den 3. August 1703, gestorben den 6. December 1784.
Dieser Hans Albrecht Friedrich von Rohr stand in Magdeburg, machte sämtliche Kampagnen unter Friedrich II. mit und nahm 1760 den Abschied. Während seiner Garnisontage zu Magdeburg, unmittelbar vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, trat er – soweit die Verhältnisse dies gestatteten – in Beziehungen zum Freiherrn von der Trenck, der ihm eine in seiner Gefangenschaft selbstgefertigte Tabaksdose von Kokosnuß und Perlmutter zum Geschenk machte. Die Seitenwände zeigen Cupido mit Pfeil und Köcher, der nach einem Herzen schießt, dazu die Umschrift:
Du hast mich nicht getroffen,
Was hat mein Herz von Dir zu hoffen?
(Etwas dunkel.) Oben auf dem Deckel ein Adler, der mit der Klaue das Rohrsche Wappen hält. All dies hatte Trenck mit einem eisernen Nagel gearbeitet, da er kein Handwerkszeug besaß. – Die Dose existiert noch im Herrenhause zu Tramnitz.
Der »alte Kirchhof«, umspielt von Kindern, überwachsen von Gesträuch, ist, wie schon angedeutet, das Poetischste, was Tramnitz aufzuweisen hat. Der neue Friedhof, draußen am Rande des Dorfes, reicht an diesen alten nicht heran, und auch die hart daneben gelegene »neue Kirche« kann poetisch nicht retten und helfen. Hat sie doch selber keinen Überschuß davon. Sie stammt aus der »armen Zeit«, will sagen aus den zwischen 1806 und 1815 liegenden Jahren (auch die Jahre, die folgten, waren nicht viel besser), und gleicht einer Fachwerkscheune, der man ein halbes Dutzend Fenster gegeben hat. Vielleicht, daß ich gar nicht dazu gekommen wäre, sie zu sehn, wenn ich nicht in Erfahrung gebracht hätte, daß hier, hinterm Altar, eine Fahne aufbewahrt würde, die von irgendeinem Tramnitzer Rohr entweder den Schweden bei Fehrbellin oder den Österreichern bei Hohenfriedberg abgenommen worden sei. Und wirklich, da war sie, hinterm Altar, alles wie erzählt. Ich rollte denn auch das Fahnentuch auseinander, das mir, anderer verdächtiger Anzeichen zu geschweigen, sofort durch seinen gänzlichen Mangel an Spinnweb auffiel. Denn eine richtige alte Fahne ist immer so, daß man nicht recht weiß, wo das Seidenzeug aufhört und das Spinnweb anfängt. Und als das Fahnentuch nun ausgebreitet vor mir lag, sah ich, daß es einfach das Rohrsche Wappen war, was darin prangte. So schwand die historische Glorie hin, die bis dahin dieses Banner umgeben hatte. Sehr wahrscheinlich war es eine Fest- oder Einzugs- oder Wappenfahne, die bei irgendeinem Karussellreiten von irgendeinem jungen Rohr getragen worden war.
Mir aber erwuchs daraus ein neuer Beweis für die hundertfältig beobachtete Tatsache, daß überall da, wo Dorfbevölkerungen einem Gegenstande begegnen, der Interesse weckt ohne verstanden zu werden, die »mythenbildende Kraft« sofort in Aktion tritt. Ob die Dinge dabei lang oder kurz zurückliegen, ist gleichgültig. Die Sage verfährt in allen Stücken souverän; was sie aber am souveränsten behandelt, das ist die – Chronologie.