Zu wohltätigem Zweck


hat die Gräfin Mysa Wydenbruck den stadtbekannten Idealisten Paul Wilhelm empfangen und nun wird auch von ihr zugegeben, was schon lange ein öffentliches Geheimnis war, dass sie nicht nur kunstsinnig ist, sondern sich auch in schier aufopfernder Weise betätigt. Die Damen, die sich jetzt betätigen oder gar ein Beispiel geben und deren heutiges Verhalten ein lautes Bekenntnis ist, dass sie bisher nur dem Tand gedient haben, teilt man in solche ein, die sich aufopfern, und in solche, die sich schier aufopfern, welch letzteres natürlich um einen Grad mehr ist. Die Gräfin Wydenbruck ist aber vielleicht eine der wenigen, die nichts zu bereuen haben, denn sie hat schon vor Ausbruch des Weltkrieges sich in vielen Komitees betätigt, es sind jetzt, der Größe der Zeit entsprechend, nur neue hinzugekommen, und sie wird vielleicht dereinst von sich sagen können, dass sie, ohne sich zu zersplittern, ihr Möglichstes getan und keine der Gelegenheiten, die das Leben bietet, um dabei zu sein, versäumt hat, dort, wohin sie einem Rufe folgte, gleich Lanckoronski, dem Beschützer der schönen Künste, und wo das Ehepaar Hofrat Wolf, das wie Telramund und Ortrud in das lichte Reich der Personalnachrichten ragt, schon anwesend war, während die Flora Dub nur als eine Luftspiegelung bei heiterem, warmem und stillem Wetter, den Wanderer neckend, am Horizont entsteht (Fata Morgana) und wieder andere Zele-britäten wie Spitzer und Spitzy erst im Gedränge der Zeit zu den Spitzen gestoßen sind. Es war jenes kunterbunte Leben, wo stets, wenn auch nichts weiter geschah als dass ein bulgarischer Gesandter einen Nagel in ein Wahrzeichen schlug, unberufen viel Leute herbeigeeilt waren, was möglich zu retten, eine Fülle von gerade verfügbaren Trebitschs und Fröhlichs und anderen Hilfskräften, unter ihnen auch jener unentbehrliche Gynäkolog, als gälte es dem Wehrmann einen Nagel nicht einzutreiben, sondern im Gegenteil, und die Charitas, eine von jenem Charas abgeleitete Eigenschaft, mit dem an der Spitze die Rettungsgesellschaft zwar erschien, aber in zahlreichen Fällen keinen Anlaß hatte zu intervenieren, diese Form von Nächstenliebe, die alle Retter verbrüdert, war jene nach oben und hinten gewendete Art von Liebe, durch die sich, wenn der Hammer auf den goldenen Nagel schlug, die Bande gefestigt fühlte, und von der der Dichter auf die Frage, was sie denn sei, so schön und treffend sagt: viel Seelen und ein Gedanke, zwei Stiassny und ein Schlag. So war das Leben und so ist es weiter. Nun wäre es freilich nicht galant, wohltätige oder auch nur kunstsinnige Damen, selbst wenn sie sich noch so deutlich im Kulturbild einer Stadt bemerkbar machen, deren Eigenart in einem täglich aus dem Weltbrand geretteten Namensregister besteht, wieder beim Namen zu nennen. Andrerseits aber kann ich doch nicht gut behaupten, dass in meinem Menschheitsideal die Figur der Dame, die sich fürs Neue Wiener Journal besuchen läßt, just die Position hat, die ich ihr als — sagen wir, um im Jargon der Wiener Lebenslust zu bleiben — »Damenfreund« so gern einräumen möchte. Dass jetzt Frauen die Rolle, die ihnen die Anmut zuweist, zu wohltätigem Zweck refusieren, mag einen Pathologen der Zeit nicht überraschen. Die Neuerung aber, dass Frauen dem Ruf der Zeitung so freudig folgen wie dem des Vaterlands, muß selbst ihn bedenklich stimmen. Leider hat mich meine eigene krankhafte Denkrichtung darauf angewiesen, den Zeitgeist von seinen typischen Anhängern oder Opfern nicht trennen zu können, und es ist mir umsoweniger vergönnt, dort eine Separierung vorzunehmen, wo die Vermischung von Adelswerten und dem weltbeherrschenden Gegenteil sich in einer schier aufopfernden Weise täglich vollzieht. Ich weiß, mein Register ist nur das Widerspiel jener trostlosen Nomenklatur, die uns heute das Ohr füllt; aber diese Bescheidenheit vermißt sich des Glaubens, dass der Geruch der Namen, die ich aus dem Tag durch die Zeit schleppe, erst jenen, die die Träger nicht gekannt haben, so in die Nase steigen wird, dass diese ganze Leib- und Lebhaftigkeit einer tollhäusle-rischen Epoche vor ihrem Auge steht, und dass sie glauben werden, ich hätte diese Ephemeren nie erlebt und die Namen, die plötzlich Typen decken, erfunden. Nur die Begrenztheit meiner Nervenkraft berechtigt öfter zu der flehentlichen Bitte an die Zeitgenossenschaft, Maß zu halten und sich mir bloß in den wichtigsten und zur besten Übersicht geeigneten Fällen zu offenbaren — sonst darf ich kleinlich sein nach Herzenslust. Um also auf die Gräfin Wydenbruck zurückzukommen, so erscheint es doch eigentlich als ein Zug, der selbst dem noch bewahrten Zeremoniell einer sich aufgebenden Gesellschaft widerstrebt, dass eine Privatwohnung einer nicht eingeladenen Horde von Zeitungslesern eröffnet werden kann, die sich überzeugen darf, wie »vornehmlich ein feiner Farbensinn und Vorliebe für Zartes, Enervierendes die Richtlinien für die Auswahl der gesammelten Kunstwerke abgegeben haben«. Der Besucher, der offenbar der Vorliebe für Enervierendes seinen Empfang zu danken hat, sucht aber die Gräfin auch in den Räumen auf, wo sie die Wohltätigkeit ausübt, und trifft sie natürlich teils nähend, teils selbst wacker zugreifend, und sie versichert ihm, dass unter allen sechzig Arbeiterinnen ein »patriarchalisches Verhältnis« herrsche. Aber nicht nur mit der Nähstube, die einem zweifellos anständigen Zwecke dient, sondern »auch zur zeitgenössischen Literatur steht die Gräfin in enger Fühlung; sie spricht von ihrer besonderen Verehrung für Artur Schnitzler, den sie zu den eigenartigsten und feinsten Erscheinungen der modernen Literatur zählt«, und da sie bei dieser Gelegenheit nicht im Traum daran denkt, dem Paul Wilhelm den Weg ins Freie zu zeigen, so sieht man wirklich, dass sie ein Herz für die Literatur hat. »Unvergeßlich« ist ihr zum Beispiel »auch ein Frühstück mit Mark Twain und Peter Nansen, bei dem die beiden großen Dichter drei bis vier Stunden auf einem Fleck beisammen gesessen waren und sich gegenseitig ihre Erlebnisse erzählt hatten«. Von ihrer eigenen künstlerischen Betätigung spricht sie nicht gern, sie wehrt bescheiden ab, ja, sie gibt zu, sie hat einmal Gesangsstunden bei der Marchesi genommen, aber Krieg ist Krieg, und eine gelegentliche Bemerkung — wahrscheinlich lautet sie: c'est la guerre — »führt wieder rasch zu der ernsten Gegenwart, die wie auf allen, auch auf der Gräfin mit ihrem ganzen Schwergewicht wuchtet«. Dem Besucher, der so galant ist, ihr tragen zu helfen, macht sie dafür das eigenartige Geständnis, sie »schwärme für die österreichisch-ungarische Monarchie«, eine Schwäche, die schier mehr Aufopferung verlangt als die, für den Schnitzler zu schwärmen, und die wohl manche insgeheim fühlen, aber nicht jeder den Mut hat auszusprechen. Dass die Gräfin nebstbei »auch eine Reihe von Plänen für kleinere und größere Veranstaltungen« nicht hat, sondern »hegt«, versteht sich von selbst. Sie hat nämlich nicht nur für die Nähstube, die eine nützliche Einrichtung ist, sondern auch für das Künstlerhaus, das mehr dekorative Ansprüche befriedigt, zu sorgen, und da bewegt man sich in einer idealen, sozusagen poetischen Region, wo man nicht haben, sondern nur hegen kann und wo immer schon, nicht nur jetzt, die Hilfszeitwörter gefehlt haben. Man spricht etwa davon, dass einer, wiewohl er ein beliebter Künstler (ohne ist), jetzt schon lange keine Aufträge bekommen (ohne hat). Darum also betätigt sich die Gräfin an der sogenannten »Kunstfürsorge«, die aus dem bekannten Bestreben hervorgegangen ist, jenen Leuten aufzuhelfen, die eben dadurch, dass die »rauhere Wirklichkeit« für die »feineren Stimmen« des Lebens kein Ohr habe und nur die »unmittelbaren Erfordernisse« gelten lasse, zu Schaden gekommen (sind). Sie ist fest entschlossen, und sie hält es für eine »unendlich bedeutsame Aufgabe, nicht nur jetzt, sondern auch in den kommenden Friedenszeiten die Kunst energisch zu unterstützen, den Boden zu bereiten für ihre neue und nach dem Krieg gewiß bedeutsame Entwicklung«. Und wahrlich, glückliche Ausnahmen wie die Erscheinung des Meisters Koch, der schon jetzt in einer Möbelniederlage auf dem Kärntnerring die große Zeit ausstellen durfte und alle Heerführer zum Sprechen ähnlich getroffen hat, bestätigen nur die traurige Erfahrung, dass die Kunst jetzt brach liegt, und die Gräfin Wydenbruck vertritt den Standpunkt, dass man »ihrer auch jetzt nicht, vielleicht gerade jetzt nicht vergessen darf«. Dagegen wäre, da ja der Wohltätigkeit keine Grenzen gesetzt sind, höchstens ein Lob des Krieges vorzubringen, der den ehrlichen Willen hat, sein Verbrechen an der Menschheit wenigstens dadurch gutzumachen, dass er das Künstlerhaus in ein Spital umgewandelt hat und dass die früher dort beschäftigten Maler wegen der schlechten Zeiten keine Aufträge kriegen, und bei aller Geringschätzung des Unfugs, der diese rauhere Wirklichkeit in Szene gesetzt hat, müßte doch gesagt werden, dass ein Zustand, der sich jenen feineren Stimmen des Lebens, die wir sonst auf Gschnasfesten zu hören bekamen, verschließt, auch etwas für sich hat. Gegen den Vorwurf der Unbarmherzigkeit, die einen notleidenden Künstler, der ja doch auch ein Mensch ist, darben lassen wolle, salviere ich mich durch die Versicherung, dass mir nichts ferner liegt, als Leute, die arbeitswillig sind und entschlossen, sich in einer Zeit, in der sie nichts zu malen kriegen, auf ehrliche Weise ihr Brot verdienen, dem Hungertode preiszugeben. Ganz im Gegenteil wollte ich schon längst in Vorschlag bringen, dass man alle jene Personen, denen es in Friedenszeiten vergönnt war, sich dem Geldmann durch ein Stilleben angenehm bemerkbar zu machen, jetzt, da dies nicht mehr zu den unmittelbaren Erfordernissen gehört, unverzüglich in den Dienst der nun einmal leider gegebenen rauheren Wirklichkeit stelle und dafür entlohne, dass sie, am besten gleich im Künstlerhausspital, von den Krankenbetten der Soldaten die Leibschüsseln hinaustragen; damit diese Handreichung, die zweifellos ein unmittelbares Erfordernis vorstellt und keineswegs unappetitlicher ist als die protegierte Malerei, der Entwicklung der Kunst beiweitem nicht so hinderlich wie diese, der Entwicklung der kommenden Geschlechter jedoch über alle Maßen hinderlich, nicht mehr von Komtessen besorgt werden muß. Von den wehrlosesten Opfern einer aufgebundenen Fibelparole, denen Geburt, Grazie und das Glück der Sinne ein besseres Schicksal angewiesen haben als die Aussicht, die Kriegsjahre ihrer Jugend in dieser Atmosphäre einer unerbittlichen Barmherzigkeit zu verbringen, bei einer Betätigung, die mir das Vorbild edlen Frauentums beinahe so zu verzerren scheint wie der schier aufopfernde Entschluß der Aristokratin, sich für das Neue Wiener Journal interviewen zu lassen.

 

 

Dezember, 1915.


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