Bei Pfarrer Andersch in Judtschen
Unter der verheerenden Pest von 1709/10 hatte Litauen besonders gelitten, ganze Dörfer waren verödet, die verwaisten Rittergüter vielfach in königliche Domänen oder mittlere Bauerngüter umgewandelt worden. Um neue Bevölkerung ins Land zu ziehen, verlieh Friedrich Wilhelm I. den vorzugsweise aus der französischen Schweiz, vereinzelt auch aus Nordfrankreich und den Niederlanden einwandernden protestantischen Ansiedlern allerlei Vorrechte. Eins dieser neuen, rasch aufblühenden Kolonistendörfer war das in der Mitte zwischen Insterburg und Gumbinnen gelegene Judtschen, von der reißenden Angerap mit ihren steilen Ufern umflossen und so nicht ohne landschaftlichen Reiz. Infolge seiner zentralen Lage inmitten der übrigen war gerade Judtschen ihr Vorort geworden und hatte einen besonderen, französisch sprechenden Pfarrer und Richter. Die tüchtigen Schweizer Bauern wahrten ihre Eigenart sowohl in politischer als religiöser Beziehung: sie blieben ihrem reformierten Bekenntnis treu, und sie ließen sich nicht in die Stellung litauischer Schar-werker herabdrücken, sondern zahlten lieber höhere Abgaben, als dass sie die ihnen gewährten Freiheiten aufgegeben hätten. Gegen Übergriffe der Beamten riefen sie freimütig das Urteil der Domänenkammern oder gar des Königs an. "Sie sind die Pioniere eines freieren Bauernstandes in Ostpreußen gewesen" (Haagen). Zur Zeit von Kants Aufenthalt zählte das Dorf etwa 20—25 selbständige Bauernstellen, die ganze Gegend ungefähr 100; dazu kamen noch eine Anzahl sogenannter Köllmer, Handwerker und Instleute. Der junge Hauslehrer hat sich offenbar keineswegs vornehm von ihnen zurückgehalten, nahm er doch zweimal — am 27. Oktober und am 8. Dezember 1748 — eine Patenschaft bei Kolonistenkindern an. Vielleicht hat er, der schon früh zu geographischen und anthropologischen Beobachtungen neigte, hier mancherlei Studien an dem bunt gemischten Volkstum der Gegend gemacht. Denn in der Nachbarschaft gab es auch deutsche Schweizer, Pfälzer, Nassauer, Hessen, Salzburger und vor allem die damals noch auf ziemlich niedriger Kulturstufe stehenden Litauer. Bis in sein Greisenalter hat er ein besonderes Interesse für den letztgenannten "uralten, jetzt in einem engen Bezirk eingeschränkten und gleichsam isolierten Völkerstamm" beibehalten, dem auch seine besten Universitätsfreunde angehörten. Eine seiner letzten literarischen Äußerungen, die aus dem Jahre 1800 stammende 'Nachschrift' zu Mielckes Litauisch-Deutschem Wörterbuch, galt diesem Volksscblag, den er wegen seiner Freimütigkeit, Offenherzigkeit und Neigung zur Satire liebte. Und wenn er später so energisch für die Aufhebung der bäuerlichen Erbuntertänigkeit eingetreten ist, so hat viel leicht eine Jugenderinnerung an die freien Judtschener Bauern mitgespielt.
An der Spitze der dortigen reformierten Gemeinde, der größten Ostpreußens, stand nun als ihr Prediger seit 1728 der Schlesier Daniel Andersch. Wider den Willen der französischen Mehrheit hatte auf die Beschwerde des deutschen Teils der eigenwillige Friedrich Wilhelm I. den damals erst 27jährigen Waffenschmiedssohn als Pfarrer eingesetzt und, der widerstrebenden Gemeinde wie der sie unterstützenden ostpreußischen Regierung zum Trotz, ihn, der anfangs kein Wort Französisch verstand, gehalten. "Soll der teusche (= Deutsche) in Jutzche bleib", lautet seine eigenhändige Entscheidung auf die Beschwerde von 118 französisch redenden Familienvätern. Im Laufe seiner langen, bis 1771 dauernden Amtstätigkeit hat der "Deutsche" dann doch verstanden, sich mit seinen Gemeindegliedern besser zu stellen. Nach den Eintragungen seiner freilich nur die ersten sechs Jahre hindurch geführten Chronik zu schließen, war Andersch eine nüchterne, wesentlich praktisch gerichtete Natur. Er legt sich einen Baumgarten an, bewirtschaftet das Pfarrland selbst und hält sich ein eigenes Gespann. Er verkehrt mit den Amtspächtern der benachbarten königlichen Domänen — adlige Familien gab es in der Nähe nicht —, während er mit den lutherischen Kollegen der Nachbarschaft infolge des konfessionellen Gegensatzes auf gespanntem Fuße steht. Zu wissenschaftlichen Interessen fehlten ihm augenscheinlich sowohl Neigung wie Anregung. Dagegen war er bemüht, seinen fünf Söhnen eine gute Schulbildung zu geben, und, da er ein gutes, im Vergleich mit den meisten seiner Amtsbrüder auf dem Lande sogar glänzendes Einkommen bezog, so konnte er ihnen, wenigstens während ihrer jüngeren Jahre, Hofmeister halten.
Unserem Kant war als Lehrer der beiden älteren Söhne schon ein cand. theol. Rochholz (Rocholl?) vorausgegangen, dessen ausgezeichneter Unterricht der zweite, 1732 geborene Sohn später in seiner vita gerühmt hat. Da beide erst im Juli 1747, aus Rochholz' Unterricht entlassen, in das Joachimstaische Gymnasium bei Berlin aufgenommen wurden, so kann Kant frühestens Sommer 1747 die Stelle in Judtschen angetreten haben und nur als Lehrer der drei jüngeren Söhne, die damals im Alter von 13, 11 und 8 Jahren standen, in Betracht kommen. Der jüngste von ihnen scheint früh gestorben zu sein; von den beiden anderen war der ältere, Paul Benjamin (geb. 1734), am 8. Dezember 1748 zusammen mit Kant Taufzeuge, kam Juli 1750 ebenfalls nach Joachimstal und soll später erst Offizier, dann Kaufmann in England geworden sein. Der andere, Timotheus (geb. 1736), besaß in späteren Jahren ein angesehenes Manufakturwarengeschäft in der Kneiphöfschen Langgasse zu Königsberg und starb dort als Kommerzienrat 1818; vermutlich rührt von ihm ein in Kants Nachlaß gefundener Briefzettel vom 13. April 1800 her, der dem greisen einstigen Lehrer Auskunft gibt, in welcher Apotheke "sehr gute Pfropfen" zu erhalten seien. Da im Dezember 1751 in den Judtschener Kirchenregistern schon ein anderer Studiosus — diesmal der Theologie — neben der Frau Pastor als Taufpate erscheint, darf man wohl als sicher annehmen, dass Kant damals seinen Hauslehrerposten bereits verlassen hatte. Möglicherweise geschah dies doch schon Juli 1750, als der ältere Zögling nach Berlin kam. Er würde also (und das müßte zu den überlieferten drei Jahren stimmen) entweder von 1747—175c oder 1748—1751 als Hofmeister in dem reformierten Pfarrhause amtiert haben.*)
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*) Ob er in Judtschen wohl auch einmal auf die Jagd gegangen ist, oder sonst Schießübungen veranstaltet hat? Im § 130 seiner 1749 veröffentlichten ersten Schrift schreibt er: "Ich habe selber befunden, dass bei vollkommen gleicher Ladung einer Flinte und bei genauer Übereinstimmung der anderen Umstände ihre Kugel viel tiefer in ein Holz drang, wenn ich dieselbe einige Schritte vom Ziel abbrannte, als wenn ich sie nur einige Zolle davon in ein Holz schoß." Oder ob er solche Versuche wirklich nur aus physikalischer Wißbegier angestellt hat? Viel Gelegenheit hatte er jedenfalls nicht dazu, denn er fährt fort: "Diejenigen, die bessere Gelegenheit haben als ich, Versuche anzustellen, können hierüber genauere und bessere Proben anstellen."