Wirkung der Schulzeit


Versuchen wir nach alledem zu einem Schlußurteil, zur Beantwortung der Frage zu kommen: Welche Wirkung hat diese achtjährige Schulzeit auf den jungen Kant gehabt? Wir scheiden dabei die außer-schulmäßigen Einflüsse aus: die des Elternhauses wie der Stadt. Denn sicher bot die letztere, schon auf dem täglichen Schulwege, dem Verstand, Gemüt und der Phantasie des aufgeweckten Knaben und noch mehr des heranwachsenden Jünglings die mannigfaltigsten Anregungen, während ihn von den Versuchungen der Großstadt, abgesehen von der strengen Schulzucht, schon der Geist des Elternhauses fernhielt. Das Wesentliche aber war doch die. Einwirkung der Schule. Welches Endergebnis zeitigte diese?

Mag das Fridericianum damals auch seine Blütezeit gehabt, mag es als die Musteranstalt gegolten haben, welche die ganze Provinz mit Lehrern und Lehrbüchern versorgte: das Gesamtresultat dessen, was sie ihren Zöglingen auf die Universität mitgab, war doch, nicht bloß an unserem heutigen, sondern" auch an Kants eigenem späteren Maßstab gemessen, außerordentlich dürftig. Das einzige aus der Schulzeit, was er auch später noch und dauernd als nutzbringend für sich empfand, war die nie in ihm erloschene Liebe zu den alten Lateinern, besonders den Dichtern, aus denen er noch in seinem Alter lange Stellen ohne Anstoß herzusagen vermochte. Was half es ihm aber im übrigen für seine Gesamtbildung, dass er vom 9. bis zum 17. Lebensjahre Latein und immer wieder Latein getrieben hatte ? Nicht einmal ein klassisches Lateinisch hatte er zu schreiben gelernt, von einer Einführung in den Geist des Altertums ganz zu schweigen. Es klingt doch wie selbsterfahren, wenn uns aus einem Losen Blatt aus dem Anfang der 70er Jahre der Stoßseufzer entgegentönt: "Wollte Gott, wir lernten in Schulen den Geist und nicht die phrases der Autoren und kopierten sie nicht, so würden unsere deutschen Schriften mehr echten Geschmack enthalten" (Ak.-Ausg. XV, Nr. 778). Es ging ihm in dieser Hinsicht nicht besser als allen berühmten Deutschen, die in den damaligen Tretmühlen des Wissens ihre Jugendjahre verbracht haben: Lessing wie Winckelmann, Herder wie Heyne, Hamann wie Nicolai, von deren jedem wir noch stärkere Äußerungen zitieren könnten. Es paßt auf die damaligen Gelehrtenschulen das Wort, mit dem beste Kenner der Geschichte des gelehrten Unterrichts seine Schilderung dieses Zeitabschnittes beschließt: "Um 1740 sind die Schulen auf den tiefsten Stand in der öffentlichen Schätzung gesunken, den sie überhaupt erreicht haben. Was sie trieben, galt in der Welt draußen nicht mehr, was draußen galt, trieben sie noch kaum" (Paulsen, Gesch. d. gelehrten Unterrichts I, 607).

Dazu kam nun noch die oben geschilderte Überfütterung mit dem, was der Seele des Menschen und am meisten der des Kindes nur in den Feierstunden des Gemüts nahegebracht werden sollte: der Religion. Selbst kirchlich gesinnte Männer, wie Borowski und Rink, welche das Fridericianum einigermaßen in Schutz zu nehmen suchen, meinen doch, dass Kant als Schüler "an dem Schema von Frömmigkeit oder eigentlich Frömmelei, zu dem sich manche seiner Mitschüler und bisweilen aus sehr niedrigen Absichten bequemten, keinen Geschmack finden konnte", ja, dass "gerade durch die stete Gewohnheit der Gebetsund Erbauungsstunden das religiöse Gefühl des Knaben erkaltete und verkümmert ward". In der Tat, wir können es begreifen, dass Kant später zu Hippel geäußert haben soll: Ihn überfiele Schrecken und Bangigkeit, wenn er an jene Jugendsklaverei zurückdächte.

Niemals hat er denn auch in seinen Schriften dankend des Fridericianums gedacht, niemals, so dürftig es ihm auch ging, während seiner Universitäts- oder Hauslehrerzeit sich um ein Lehramt an seiner alten Schule *) bemüht. Von seinen Lehrern hat er zwar den "guten" Heydenreich, wie wir sahen, und zwar ihn allein rühmend hervorgehoben, aber anscheinend doch auch zu ihm später in keinem näheren persönlichen Verhältnis mehr gestanden. Und ebensowenig zu seinem Direktor F. A. Schultz, den er ja auch nur aus Predigten, Katechisationen und gelegentlichen Besuchen, nicht aus dem eigentlichen Unterricht kannte. Zwar soll er (nach Borowski) noch in seinen letzten Jahren gewünscht haben, ihm ein literarisches Denkmal errichten zu können; aber während seiner Studentenzeit kennt Schultz ihn, wie wir sehen werden, nicht einmal mehr vom Ansehen, und seine erste Schrift hat der junge Gelehrte nicht ihm, sondern einem anderen Wohltäter der Familie, Professor Bohlius, gewidmet.

Nun war die Zeit im Elternhaus und hinter den Wänden des Fridericianums für ihn vorüber. Im ganzen muß sie keine angenehme Erinnerung für den späteren Mann gebildet haben. Sonst hätte er in seinen Vorlesungen über Pädagogik nicht die Sätze aussprechen können, die ein seiner Kindheit froher Mensch nie äußern wird: "Viele Leute denken, ihre Jugendjahre seien die besten und die angenehmsten ihres Lebens gewesen. Aber dem ist wohl nicht so. Es sind die beschwerlichsten Jahre, weil man da sehr unter der Zucht ist, selten einen eigentlichen Freund und noch seltener Freiheit haben kann." Und dabei fehlte ihm keineswegs die Empfindung für das, was der Jugend vor allem not tut, ihm, der kurz vorher die Kinder stets fröhlichen Herzens und "so heiter in ihren Blicken wie die Sonne" wünscht. Aber der geistige Druck der frommen und strengen Anstalt wirkte, zumal bei der pietistischen Gesinnung der Eltern, auch im Hause nach. Dazu kam der frühe Tod der seinem Herzen besonders nahestehenden Mutter, der Ernst des Lebens, der bei den anscheinend allmählich schlechter werdenden pekuniären Verhältnissen der Familie frühe an ihn herantrat.

Jetzt sollte die freiere Zeit des akademischen Lebens für ihn beginnen. Gegen Ende des Sommers 1740 wurde er mit zehn anderen aus dem Fridericianum entlassen. Schulzeugnisse, wie heute, gab es damals noch nicht, und auch eine Gesamtcharakteristik des Abiturienten, wie sie z. B. von Johann Winckelmann vorhanden ist, hat sich nicht erhalten. Um so wertvoller ist unter diesen Umständen das Zeugnis seiner Mitschüler — Schüler- sehen ja manchmal schärfer als Lehreraugen —, das uns durch den Mund des berühmtesten unter ihnen überliefert ist, und das zugleich die Eindrücke noch einmal zusammenfaßt, welche der Geist des "Pietisten"-Gymnasiums unter den klügsten und urteilsfähigsten seiner Zöglinge weckte. "Dreißig Jahre sind vorbei," so schrieb am 10. März 1771 der berühmte Philologe David Ruhnken aus Leyden an Immanuel Kant, "seit wir beide unter jener zwar pedantisch finsteren, aber doch nützlichen und nicht verwerflichen Zucht der Fanatiker seufzten. Man hegte damals von Deinen Geistesanlagen allgemein die rühmliche Meinung, Du könntest, wenn Du, ohne in Deinem Eifer nachzulassen, weiter strebtest, die höchsten Höhen der Wissenschaft erreichen."

 

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*) Die Abneigung oder mindestens Gleichgültigkeit des erwachsenen Kant gegen das Fridericianum scheint auf Gegenseitigkeit beruht zu haben. In der wohlerhaltenen Bibliothek des heutigen Friedrichskollegs finden sich unter der Rubrik 'Philosophie' zwar eine ganze Anzahl anderer philosophischer Schriften des 18. Jahrhunderts — darunter nicht weniger als zehn Compendien von Wolff, außerdem solche von Descartes und Leibniz, Brucker, Feder, Meier, einzelnes von d'Alembert, Garve, F. H. Jacobi —, aber keine einzige von Immanuel Kant!


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