Bedeutung dieser Zeit für Kant


Wir aber fragen: Was bedeuten diese sechs oder sieben Hauslehrjahre für Kants Empfindungen und für seine Persönlichkeit? Wir müssen dabei freilich aus unscheinbaren Tatsachen weite und vielleicht nicht sehr sichere Schlüsse ziehen. Interessant ist da zunächst die von Haagen zum ersten Male aus dem Staub der Judtschener Kirchenregister ans Licht gezogene Tatsache, dass Kant am 27. Oktober 1748 bei der Taufe des kleinen Samuel Challet — sein Vater war Schulmeister und Kirchenvorsteher — sich als Studiosus philosophiae hat eintragen lassen. Demnach legte der 24½jährige junge Mann erstens auf den Kandidatentitel keinen Wert und hat es zweitens, obwohl in einem Pfarrhause lebend, vorgezogen, sich als Studiosus der Philosophie zu bezeichnen, wie auch schon 1—2 Jahre vorher bei Einreichung seiner ersten Schrift, für deren Druck er nun bald die Kosten decken konnte; denn von den 50—60 Talern, die er nach Haagens Schätzung außer freier Wohnung und Kost von Andersch bezog, konnte er bei den sicher sehr geringen Ansprüchen, die das Pfarrhaus an sein äußeres Auftreten stellte, das meiste zurücklegen. Möglicherweise ist er sogar deshalb zunächst lieber in ein einfach bürgerliches Haus gegangen, wo er zudem nicht fertig französisch zu parlieren und alle möglichen musikalischen Instrumente — Klavier und Violine, Flöte und "Bassetter" (vgl. Kant an von Hülsen, 1. Mai 1784) — zu spielen brauchte. Dafür richtete er auch keine üblen Folgen an, wie der Held von R. Lenzens Drama 'Der Hofmeister', das die Zustände auf diesem Gebiet in nur wenig späterer Zeit, nach dem Zeugnis urteilsfähiger Zeitgenossen, recht nach ostpreußischer Wirklichkeit gezeichnet hat. Pflichttreu ist er jedenfalls, wie sein ganzes Leben hindurch, so auch in dieser Stellung gewesen, und auch sein Unterricht wird nicht ganz so schlecht gewesen sein, wie er selber ihn in seinem Alter zu machen pflegte mit der scherzhaften Versicherung, dass "in der Welt vielleicht nie ein schlechterer Hofmeister gewesen als er", oder gegen seinen Famulus Lehmann: Noch jetzt "mache es eine seiner unangenehmsten Traumvorstellungen aus", wenn er sich wieder in seine Hofmeisterzeit versetzt fühle; das Geschäft eines Pädagogen sei ihm "immer eines der verdrießlichsten" erschienen (Feders lieben, Natur und Grundsätze, Leipzig 1825, S. 173). So gern wir ihm glauben wollen, dass es ihm schwer geworden ist, "sich" zu den Begriffen der Kinder "herabzustimmen", hat er doch den ältesten seiner Zöglinge so weit gebracht, dass dieser auf dem berühmten Joachimstaischen Gymnasium sofort in die Prima aufgenommen wurde. Und in einer seiner vorkritischen Schriften erzählt er selbst, er habe einmal einem "Lehrling" einen mathematisch-physikalischen Satz derart klar zu machen verstanden, dass derselbe seine ästhetische Freude daran hatte ('Einzig möglicher Beweisgrund', S. 46). Auch die tiefgegründete Liebe und Hochachtung der Hülsens zu ihm könnte man sich ohnedas kaum vorstellen.

Erwähnenswerte Einflüsse seiner Umgebung auf seine wissenschaftliche oder auch nur geistige Entwicklung im allgemeinen sind wohl schwerlich anzunehmen: weder bei dem Bauernpastor noch bei der adligen Familie. Dagegen könnte er in letzterer wohl zu jener Gewöhnung an feinere Lebensformen den Grund gelegt haben, die er später auch in der feinsten aristokratischen Gesellschaft zeigte. Dass er darüber die Hauptsache nicht vergaß, wissen wir aus dem Munde seines Studienkameraden Heilsberg, nach dessen Zeugnis er "in allen Stücken die Rechtschaffenheit und Biederkeit im Umgange jenem Gepränge vorzog und das Komplimentieren haßte"; wie er denn auch, auf der Rückkehr von seiner Erziehertätigkeit auf Schloß Capustigall, "öfters mit inniger Rührung an die ungleich herrlichere Erziehung gedachte, die er selbst in seiner Eltern Hause genossen". Auch die schiefe Stellung des zwischen Eltern und Hofmeister stehenden Kindes hat er wohl empfunden, wenn man nach Bemerkungen darüber in seinen Vorlesungen über Pädagogik schließen darf. Wenn er gleichwohl nach Borowskis, von ihm selbst gebilligten, Bericht noch im Alter "an die Jahre seines ländlichen Aufenthalts und Fleißes mit vieler Zufriedenheit zurückdachte", so lag das eben daran, dass er diese äußerlich einförmigen Jahre zu eifriger wissenschaftlicher Arbeit benutzt hat. Es waren Jahre stillen Reifens. Er legte sich "Miszellaneen aus allen Fächern der Gelehrsamkeit" an, er bereitete die Arbeiten vor und arbeitete sie vielleicht zum Teil bereits aus, mit denen er in den Jahren nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt (1754 ff.) in schneller Folge hervortrat.


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