Zeichnende Künste

Zeichnende Künste. Unter dieser allgemeinen Benennung begreift man die ganze Klasse der schönen Künste, die durch Darstellung sichtbarer Formen auf die Gemüter wirken, bei denen folglich die Zeichnung dieser Formen das Wesentliche der Kunst ausmacht. Diese Künste haben ihr Fundament in der ästhetischen Kraft, die in den Formen der Körper liegt, von welcher an seinem Orte gesprochen worden.1 Ein feines und lebhaftes Gefühl für alle Arten dieser Kraft und ein scharfes Aug, das die mannigfaltigen Formen der Natur sehr bestimmt und getreu fasst, sind die wesentlichsten Talente zu diesen Künsten.

 Man hat auf so vielfältige Weise versucht die sichtbaren Formen als Gegenstände des Geschmacks darzustellen, dass der Hauptstamm der zeichnenden Künste sich in sehr viele Zweige verbreitet hat. Zuerst sind zwei Hauptäste zu unterscheiden. An dem einen hangen die Zweige der zeichnenden Kunst, die die Formen körperlich bilden und an dem anderen die, welche sie nur flach aber durch die Zauberkraft der Vermischung des Lichts und Schattens so darstellen, dass das Auge die wirklich körperliche Form zu sehen glaubt. Jene werden auch die bildenden Künste genannt, weil sie unförmliche körperliche Massen zu schönen Formen bilden. Doch scheint der Sprachgebrauch die Baukunst nicht mit unter diesem allgemeinen Namen zu begreifen, ob sie gleich mit den anderen dieses gemein hat, dass sie aus unförmlichen Massen schöne Formen zusammensetzt.

 Die bildenden Künste teilen sich wieder in viel besondere Zweige, die man aber mehr durch die Behandlung und durch das mechanische Verfahren als durch den Geist oder den Stoff, den sie darstellen unterscheidet. Wir haben der Hauptzweige schon besondere Meldung getan.2 Man könnte noch mehr Arten derselben unterscheiden, wenn an einer subtileren Zergliederung dieser Sache was gelegen wäre. So könnte man z.B. die Bossierkunst, die Schnitzkunst3 und die Drehkunst, auch noch als besondere Zweige der bildenden Kunst ansehen. Die letztere hat in der Tat bei den Griechen ihren eigenen Namen und Rang behauptet.

  Der andere Hauptast teilt sich wieder in verschiedene Zweige, die Malerei, die mosaische Kunst, die Kupferstecher Kunst und das Formschneiden.

 Die große Mannigfaltigkeit der zeichnenden Künste, gibt einen sehr überzeugenden Beweis von dem großen Wohlgefallen, das der Mensch an schönen Formen findet. Es scheint mir außer Zweifel zu sein, dass dieses natürliche Wohlgefallen an Schönheit der Form, schon in seiner ersten Nüchternheit und Einfalt diese Künste hervorgebracht hat; ob sie gleich mit der Zeit vielfältig bloß zur Üppigkeit und zur Unterstützung einer eiteln Pracht angewendet worden. Es gibt zwischen der ersten Anwendung dieser Künste, die bloß auf ein unschuldiges, weiter nichts auf sich habendes Ergötzen des Auges abzielt und ihrem Missbrauch, der sie bloß zur Unterstützung einer übermütigen Pracht angewendet hat, eine Mittelstrasse, die uns die zeichnenden Künste in ihrem höchsten Werte zeigen, da sie so wohl zu allgemeiner Erhebung oder Erhöhung des Gemütes als zu kräftiger Lenkung desselben in besonderen Fällen können angewendet werden. Davon aber haben wir an anderen Orten hinlänglich gesprochen.4 Wir berufen uns hier nur deswegen darauf, damit man sich überzeuge, dass die Aufnahm und Vollkommenheit dieser Künste, da sie das ihrige zu Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts beiträgt, keine gleichgültige Sache sei.

 Die strengern Sittenlehrer, die die zeichnenden Künste ihres Missbrauchs halber völlig verwerfen, bedenken nicht, wohin ihre Grundsätze führen. Wenn man alles, was bloß unseren Geschmack am Schönen nährt, unterdrücken sollte, so würde der Mensch gerade die Vorzüge verlieren, die ihn am höchsten über die Tiere empor heben. Man macht uns reizende Schilderungen von der Glückselig keit der noch an der ersten rohen Natur hängenden Völker, die bei gänzlichem Mangel jener Künste, die nächsten und dringendsten Bedürfnisse der Natur in sorgeloser Ruhe befriedigen. Aber man bedenkt nicht, wie nahe solche Menschen den Tieren sind, die eben so sorgefrei gerade die Bedürfnisse, die man für die wichtigsten hält, befriedigen. Die so mannigfaltigen Talente des Menschen geben einen offenbaren Beweiß, dass er zu einer Vollkommenheit bestimmt sei, von welcher der höchste Wohlstand, der bloß Ruh und völligen Genuß aller Notdurft verstattet, noch unendlich entfernt ist. Aber diese Betrachtung kann hier nicht weiter ausgeführt werden.

 Die allgemeine Benennung der Künste von denen hier die Rede ist, zeigt an, dass die Zeichnung das Fundament derselben ist und dass sie ihren eigentlichen Wert daher haben: deswegen haben wir diese besonders zu betrachten.

 

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1 S. Form.

2 S. Bildende Künste.

3 L'art du ciseleur

4 S. Baukunst; Bildhauerkunst, Malerei; Stein- und Stempelschneiderkunst.

 


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