Sich-erinnern und Vergessen


Je erfinderischer ein Mensch in dem Wechseln der Methode ist, um so besser; aber für jede einzelne Veränderung gilt doch die allgemeine Regel, die im Verhältnis des Sich-erinnerns und Vergessens zur Anwendung kommt. In diesen beiden Strömungen bewegt sich das ganze Leben, weshalb man dieselben stets in seiner Macht zu haben suchen muß. Erst nachdem man die Hoffnung über Bord geworfen hat, fingt man an, künstlerisch zu leben; denn solange man noch hofft, kann man sich nicht beschränken. Die Hoffnung ist auf stürmischem Meere ein schlechter Kompaß. Sie war daher auch eine der bedenklichten Gaben des Prometheus. Den sterblichen Menschen schenkte er die Hoffnung, da sie nicht, wie die Götter, in die Zukunft sehen konnten.

Vergessen - ja, das wollen alle Menschen. Wenn ihnen etwas Unangenehmes begegnet, sagen sie stets: Ach, wer doch vergessen könnte. Aber das ist eine Kunst, da man erst lernen muß. Und ob ich vergessen kann, das hängt davon ab, wie ich mich erinnere; und dieses letztere richtet sich wieder danach, wie ich das wirkliche Leben auffasse. Wer sich mit seiner Hoff-nung im Herzen fest rennt, der wird sich dessen so lebhaft erinnern, dass er es nicht vergessen kann. Nil admirari ist daher die eigentliche Lebensweisheit. Kein Lebensmoment darf so viel Bedeutung für uns haben, dass wir ihn nicht in jedem Augenblick vergessen könnten, anderseits aber doch auch wieder so viel Bedeutung, dass wir uns desselben jeder Zeit erinnern könnten. Das Alter, welches am besten lernt, ist zugleich das vergeßlichste: das Alter der Kindheit.

Die Kunst zu vergessen ist nicht so leicht, und nur wenige Menschen verstehen sie recht. Sie wollen das Unangenehme vergessen, nicht das Angenehme. Das aber verrät große Einseitigkeit. Vergessen ist nämlich der rechte Ausdruck für die eigentliche Assimilation, die das, was man erlebt hat, am Resonanzboden absetzt. Deshalb ist die Natur so groß, weil sie es vergessen hat, dass sie ein Chaos war; aber der Gedanke an das Chaos kann zu jeder Zeit wieder auftauchen. Da man meistens nur das Unangenehme vergessen will, stellt man sich das Vergessen oft als eine wilde Nacht vor, die alles andere übertäubt, aber man muß sowohl das Angenehme wie das Unangenehme vergessen können. Auch das Angenehme kann, besonders wenn es vergangen ist, etwas Unangenehmes in sich haben und an einen Mangel erinnern - auch dieses Unangenehme wird durch das Vergessen gehoben. Will man sich indessen nur als ein Pfuscher in der Kunst des Vergessens das Unangenehme ganz und gar aus dem Sinn schlagen, so wird man bald sehen, dass das keinen Zweck hat. In einem unbewachten Augenblick überrascht es einen oft mit der ganzen Macht des Plötzlichen und Unerwarteten. Das Vergessen ist die Schere, mit welcher man wegschneidet, was man nicht gebrauchen kann, aber wohlgemerkt, unter allerhöchsten Aufsicht der Erinnerung. Vergessen und Sich-erinnern sind daher identisch und die künstlerisch hergestellte Identität des archimedischen Punktes, mit welchem man die ganze Welt emporhebt.

Die Kunst des Vergessens und Sich-erinnerns wird uns auch davor bewahren, dass wir uns nicht in einem einzelnen Lebensverhältnis festrennen.


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