2. die Kunstlehre


des Aristoteles. Zu einer systematischen Durcharbeitung des von ihm als »poietisch« abgegrenzten Gebietes der künstlerischen Tätigkeit scheint der Philosoph nicht gelangt zu sein. Erhalten ist nur seine Schrift »Über die Dichtkunst « (deutsch von Ueberweg, griechisch und deutsch mit Einleitung und Anmerkungen von Susemihl, kritische Ausgabe von Vahlen, 3. Aufl. 1886) und auch von dieser im wesentlichen nur der die Tragödie und das Epos betreffende Teil. Die Lyrik scheint er überhaupt nicht berücksichtigt zu haben. Das stimmt zu seiner ganzen nüchternen Anschauungsweise. Denn auch die Kunst leitet Aristoteles im Gegensatz zu Plato nicht aus der Schöpferkraft der erzeugenden Ideen ab, sondern von dem allen Geschöpfen gemeinsamen, besonders aber den Menschen eigenen Naturtrieb der Nachahmung. Freilich soll die Nachahmung nicht im bloßen Kopieren des Zufälligen bestehen, sondern das »Wahrscheinliche« und »das, was meistenteils geschieht«, so »wie es geschehen müßte« darstellen, sodass die freie Tätigkeit nicht ganz unterdrückt ist. Aber ein weiterer Maßstab für das schöpferische Gestalten wird nicht gegeben; und nicht das Ewige und Unveränderliche, sondern die Welt des Veränderlichen ist ihr Gebiet. Der Zweck der Kunst ist - abgesehen von den dem unmittelbaren praktischen Nutzen dienenden technischen Künsten - zunächst Erholung und edle Unterhaltung des Geistes, indes doch auch ein höherer: zeitweilige Befreiung (Läuterung, katharsis) der Seele von den sie überwältigenden Affekten. Denn das scheint, nach den mannigfachen neueren Untersuchungen von Bernays u. a., der Sinn der berühmten und viel umstrittenen aristotelischen Definition der Tragödie zu sein:

»Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung von einem gewissen Umfang in anmutiger Rede... welche durch Mitleid und Furcht die Reinigung dieser Affekte (zugleich: von diesen Affekten) vollzieht.«

Eine Art Mittelstellung zwischen Poetik und Ethik nimmt die Rhetorik ein, deren Zweck Überzeugung durch Wahrscheinlichkeitsgründe ist, und deren verschiedenen Gattungen (der beratenden oder Staats-, der gerichtlichen und der Prunkrede) Aristoteles ausführliche, auch mit interessanten psychologischen Abschnitten (Lehre von den Affekten, Charaktertypen, Lebensaltern) untermischte Erörterungen gewidmet hat, die indes dem Zwecke unserer Darstellung fern liegen.

 

Literatur: Die »Politik« (8 Bücher), namentlich die Schilderung des Idealstaats, ist leider unvollendet. Außer den allgemeinen Darstellungen vgl. namentlich Gomperz III, 245-360 und W. Oncken, Die Staatslehre des Aristoteles, Lpz. 1870-1875; auch Pöhlmann a. a. O. S. 581-610. - J. Bernays, Grundriß der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie, Berlin 1857. J. Vahlen, Beiträge zur aristotelischen Poetik, Wien 1865-1867. Döring, Die Kunstlehre des Aristoteles, Jena 1876.


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