4. Zweck
(hou heneka)


Während sich Aristoteles für die bisher genannten Prinzipien auf Vorgänger wie die Ionier, Empedokles, Anaxagoras, Plato bezieht, stellt er selbst, wie er ausdrücklich hervorhebt, das Zweckprinzip zum erstenmal auf: Das Wesen und die Ursache jedes Dinges ist der in ihm ruhende Zweck. Sahen wir auch schon bei Sokrates und Plato den Zweckgedanken auftauchen, so ist noch erst Aristoteles der Begründer einer besonderen Zwecklehre (Teleologie). Damit tritt seine Philosophie in ausgesprochenen Gegensatz zu der mechanischen Weltauffassung Demokrits, den er (de gener. animalium V, 8) ausdrücklich tadelt, weil er, »die Zweckursachen (hou heneka) außer acht lassend, alles auf die Notwendigkeit (anankê) zurückgeführt« habe. Das Wasser des Wassersüchtigen fließe nicht aus wegen des Messers, sondern wegen der Gesundheit durch das Messer! Demokrit vertritt in diesem Falle entschieden die moderne naturwissenschaftliche Anschauung. Aristoteles hat selbst ein Gefühl von der Unsicherheit seines eigenen Standpunktes: die Naturforschung soll »auch« das mechanische Prinzip haben, »mehr aber« das des Zwecks (mallos de tinos heneka). Und ähnlich triviale Beispiele, wie das obige, sind ihm öfters gut genug; Das Spazierengehen geschieht zum Zweck der Gesundheit; die Wand ist zwar aus Stoff entstanden, aber doch nur, um Gegenstände zu bergen u. dergl. Nach Analogie der menschlichen Kunst verfährt auch die Natur. Sie schafft nach dem ihr vorschwebenden Zweckideale, z.B. der Tiergattung, ihre einzelnen Exemplare. Das ist nichts anderes als die mißverstandene, ins Dasein übersetzte (hypostasierte) platonische Idee, die er doch bekämpft. Nicht bloß die Tiere, wie Spinnen und Ameisen, verfahren offenbar zweckvoll, auch die Blätter der Pflanze sind zu deren Schutz, die Wurzeln zu ihrer Nahrung da, der Zweck des Samenkorns ist der Baum. Mißbildungen und Fehler beweisen nichts gegen diese Zweckmäßigkeit der Natur; auch die Kunst macht ja Fehler, z.B. Schreibfehler, Mischungsfehler bei Arzneien usw.! Und, wo ein Zweck nicht offen zutage treten will, hält sich unser Philosoph für berechtigt, ihn hinzu zu erdenken: »Die Natur tut nichts umsonst!« Wo die Nützlichkeit sich nicht nachweisen läßt, helfen ästhetische Gesichtspunkte (Rücksicht auf Symmetrie u. a.) aus.

Im allgemeinen wird der Zweck mit der Form gleichgesetzt, während die Materie das Zufällige (automaton), Gesetz- und Zwecklose in der Natur darstellt, welches sich der Zweckverwirklichung hemmend in den Weg stellt. Während daher beim künstlichen und künstlerischen Bilden die vier aristotelischen Prinzipien noch ziemlich zu unterscheiden sind - er selbst bezeichnet z.B. an dem zusammenfassenden Beispiele des Hauses als den Stoff die Bausteine, als Form den Begriff des Hauses, als bewegende Ursache den Baumeister, als Zweck das wirkliche Haus -, so fallen in der schaffenden Natur die drei letzten Prinzipien (Form, bewegende Ursache, Zweck) zusammen, es sind verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Es gibt mithin bei unserem Philosophen im Grunde vier verschiedene Arten von Ursachen: eine begriffliche oder formale, eine Bewegungsoder wirkende, eine Stoff- und eine Zweckursache.

So erscheint uns denn Aristoteles' Grundphilosophie als echte »Metaphysik« Er fragt nicht zuerst, wie Plato: Unter welchen Bedingungen ist eine Gewißheit des Erkennens, ist Philosophie als Wissenschaft möglich? Wie komme ich dazu, von einem Zwecke zu reden? Sondern er fragt: Auf welche Weise kommt Erfahrung zustande? Wie gelangen wir von dem proteron pros hêmas zu dem proteron tê physei? Wie entwickelt sich aus der rohen sinnlichen Wahrnehmung das reine Erkennen? Worauf er im Grunde doch keine andere Antwort weiß als: alle Veränderung erfolgt durch das »Wesen« des sich Verändernden. Seine Philosophie ist nicht schöpferisch, wie die Platos, sondern in Formeln klemmend, nicht einheitlich, sondern dualistisch und mit unlösbaren Widersprüchen behaftet. Dagegen hat sie das unbestreitbare Verdienst, den Blick auf den Verwirklichungsprozeß gerichtet und damit dem fruchtbaren Prinzip der Entwicklung zuerst vollen Ausdruck verliehen zu haben. Es existiert eine ungeheure Stufenleiter denkbarer Zustände und Wesen von der »ersten«, ungeformten Materie bis hinauf zu den höchsten Formen geistiger Tätigkeit.

Dies im einzelnen darzulegen, sind seine naturhistorischen und psychologischen Schriften bemüht.


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